Fall Niels H.:Niels H. - Suche nach dem Kick

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Niels H., 39, an einem der Verhandlungstage im Oldenburger Gericht 2014. Der Krankenpfleger wurde wegen Mordes bereits zu lebenslanger Haft verurteilt. (Foto: Carmen Jaspersen/dpa)

Es ist die größte Mordserie der deutschen Nachkriegsgeschichte: Krankenpfleger Niels H. soll mindestens 33 Menschen umgebracht haben. Das birgt auch politische Brisanz.

Von Annette Ramelsberger, Oldenburg/München

Es war nicht nachts und auch nicht im Morgengrauen, als die Experten der "Soko Kardio" aus Oldenburg auf den Friedhöfen von Delmenhorst, Oldenburg und Bremen auftauchten. Es war helllichter Tag, und man ging schnell und geschäftsmäßig zur Sache. Ein Grab wurde geöffnet, ein Sarg emporgehoben. Die Reste des Menschen, der darin ruhte, kamen ins Labor in Oldenburg, dort wurden sie darauf überprüft, ob man noch einen spezifischen Wirkstoff nachweisen konnte. Noch am selben Tag wurde der Sarg wieder hinabgelassen, das Grab zugeschüttet. Bloß kein Aufsehen erregen.

Denn Aufruhr gibt es schon genug. Was die Exhumierungen rund um Oldenburg zutage brachten, ist nichts anderes als die größte Mordserie der deutschen Nachkriegsgeschichte. 99 Gräber haben die Polizisten geöffnet, in 33 Leichen fanden sie Rückstände eines Herzmittels, das dort nichts zu suchen hatte. Und die Ermittlungen sind noch nicht beendet: Es wird weitergegraben. Es könnte sich herausstellen, dass in den Kliniken Oldenburg und Delmenhorst zwischen 2000 und 2005 mehr als 100 Menschen ermordet wurden.

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Mit größter Wahrscheinlichkeit ist der frühere Krankenpfleger Niels H. aus Wilhelmshaven dafür verantwortlich. Der 39-Jährige ist bereits im Februar 2015 wegen zweier Morde zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Kurz vor Ende dieses Prozesses erklärte er, dass er nicht nur die angeklagten Taten verübt, sondern vermutlich mehr als 30 Morde begangen hat. Aus Geltungssucht hatte er todkranken Patienten das Herzmittel Gilurytmal gespritzt, das zu Herzrhythmusstörungen führen und tödlich enden kann, wenn der Patient nicht sofort reanimiert wird. Niels H. war stets schnell zur Stelle und "rettete" die Menschen, die er zuvor an den Rand des Todes gebracht hatte. Aber viele Male kam er zu spät.

Polizei und Staatsanwaltschaft haben am Mittwoch bekannt gegeben, dass sie von mindestens 33 Taten ausgehen, von sechs bereits bekannten und 27 nun neu nachgewiesenen. Bei sieben Fällen stehe das Ergebnis noch aus, bei 65 exhumierten Toten habe kein Nachweis gelingen können. Anders als bisher habe der frühere Pfleger nun auch erstmals gestanden, bereits bei seiner Tätigkeit in Oldenburg Patienten absichtlich vergiftet zu haben. Bei seinem Prozess im Februar vergangenen Jahres hatte er noch darauf beharrt, außerhalb Delmenhorsts sei nie etwas vorgefallen. Außerdem habe Niels H., so die Polizei, nicht nur mit einem Herzmittel getötet, sondern auch mit Kalium, das sich allerdings nach dem Tod nicht mehr nachweisen lasse, weil beim Zerfallsprozess des Menschen auch auf natürliche Weise Kalium freigesetzt wird.

Niels H. wird noch einmal vor Gericht gebracht

Nach Auskunft der Staatsanwaltschaft hat Niels H. - konfrontiert mit den neuen Erkenntnissen - die 27 neuen Taten pauschal eingeräumt, wenn er sich auch nicht mehr an Einzelheiten erinnern kann. Es waren wohl einfach zu viele.

Die Staatsanwaltschaft hat bereits angekündigt, eine neue Anklage gegen Niels H. vorzubereiten. Er wird sich dann einem neuen Verfahren stellen müssen - am Strafmaß aber wird sich nichts ändern, er ist bereits jetzt wegen mehrfachen Mordes zu lebenslanger Haft mit besonderer Schwere der Schuld verurteilt. Aber für die Angehörigen der getöteten Opfer ist so ein Prozess unabdingbar, um Gewissheit über das möglicherweise gewaltsame Ende ihrer Verwandten zu bekommen und Schadenersatzansprüche an die betroffenen Krankenhäuser stellen zu können.

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Die unvorstellbare Mordserie birgt auch politische Brisanz: Nun haben sich die Hinweise bestätigt, dass die betroffenen Krankenhäuser schon lange von den Taten ahnten und dennoch nichts unternahmen, um ihre Patienten vor dem mörderischen Pfleger zu schützen. Der Oldenburger Polizeipräsident Johann Kühme machte den Verantwortlichen des Klinikums in Oldenburg, wo Niels H. vor seiner Zeit in Delmenhorst beschäftigt war, schwere Vorwürfe. Niels H. hatte bis 2002 in Oldenburg gearbeitet, dann wechselte er im Dezember 2002 nach Delmenhorst; nach einer Woche gab es dort den ersten nachgewiesenen Todesfall durch das Herzmittel Gilurytmal. Im Klinikum Oldenburg hätten die Verantwortlichen von Auffälligkeiten beim Dienst des Pflegers gewusst, sagte Kühme. Warum die Polizei nicht eingeschaltet worden sei, wisse er nicht. Niels H. wurde lieber mit einem guten Zeugnis nach Delmenhorst weggelobt.

"Es spricht vieles dafür, dass die Morde von Niels H. im Klinikum Delmenhorst hätten verhindert werden können", sagte Kühme. Spätestens im Jahr 2001 sollen die Verantwortlichen in Oldenburg von Auffälligkeiten gewusst haben, geschehen ist aber nichts. Nun laufen Ermittlungen wegen "Totschlags durch Unterlassen" gegen Verantwortliche des Klinikums Oldenburg. Auch in Delmenhorst wird gegen fünf Verantwortliche in der Klinik ermittelt.

"Die bisherigen Ermittlungen haben den Verdacht erhärtet, dass es ab Mitte 2003 Hinweise auf nicht fachgerechtes Verhalten von Niels H. gab und diese sich spätestens ab Mitte 2005 so verdichtet hatten, dass Maßnahmen zum Schutz der Patienten hätten ergriffen werden können", erklärte die Polizei. Die Krankenhäuser sehen sich nun einer ganzen Reihe an Schadensersatzforderungen gegenüber.

Die Rechtsanwältin Gaby Lübben, die mehr als 60 Angehörige mutmaßlicher Mordopfer vertritt, sagte der SZ, es sei den Kliniken alleine darum gegangen, Schaden von ihren Häusern abzuwenden, nicht aber von ihren Patienten. Bereits beim ersten Prozess gegen Niels H. vor über einem Jahr seien Ärzte als Zeugen aufgetreten, die von Auffälligkeiten sprachen. Auch Kolleginnen von Niels H. erklärten, sie wollten den Pfleger nicht auf der Station haben. Wenn er Dienst tat, seien stets Komplikationen aufgetreten. "Am 15. Dezember 2002 wechselte Niels H. nach Delmenhorst, am 22. Dezember gab es den ersten nachgewiesenen Todesfall. Das geht nur, wenn ich erfahren darin bin, Leute auf diese Art umzubringen. Da hat sich nichts langsam entwickelt", sagt Anwältin Lübben.

Niels H. hatte die Morde damit begründet, dass er nach dem Wechsel von der Intensivstation in Oldenburg zum Krankenhaus Delmenhorst schlicht unterfordert war und sich unausgelastet fühlte und deswegen mit den herbeigeführten Notfällen etwas Abwechslung in seinen Arbeitsalltag bringen wollte.

Dieser Suche nach dem Kick fielen Menschen aller Altersklassen zum Opfer: vom 81-Jährigen, der noch Motorrad fuhr, über die 61-Jährige, die sich gerade einen neuen Mercedes gekauft hatte und damit von der Klinik nach Hause fahren wollte, bis zum 44 Jahre alten Elektriker mit drei kleinen Kindern. Erst im Jahr 2005 ertappte eine Krankenschwester Niels H., als sie einem frisch Operierten mit unerklärlichen Komplikationen eine Blutprobe entnahm und das Herzmittel Gilurytmal fand. Daraufhin wurde Niels H. verhaftet. Er wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt und ging in Revision. Und es passierte: nichts. Er arbeitete weiter in einem Altersheim. Erst 2009 trat er die Haft an. Und niemand ermittelte, was da noch geschehen sein könnte.

Erst die Angehörigen haben sich die Exhumierungen erkämpft. Erst durch sie kommt der zweite Prozess ins Rollen. Und erst in diesem Prozess wird das Unerhörte klar: Hier sitzt ein Serienmörder.

Nach einem weiteren Jahr und 99 Exhumierungen ist nun klar: Ein Gutachter hat bei vier Toten in Oldenburg eine Vergiftung mit Kalium nachgewiesen. Niels H. hat die Kaliumgaben zugegeben. Man geht davon aus, dass Niels H. außer dem Herzmittel Gyluritmal auch noch andere Medikamente verwendete, weil "auch während dieser Zeiträume die Sterberate auffällig erhöht war und es gerade während seiner Dienstzeit zu einer Häufung von Todesfällen kam". In Oldenburg sollen nun "mehrere Hundert Patientenakten" überprüft werden. Anschließend werde ein Gutachter diese Akten auswerten. Auf der Basis dieses Gutachtens werde dann entschieden, ob auch in Oldenburg Massenexhumierungen notwendig seien. Häufig sei der Nachweis der Medikamente kaum noch möglich, weshalb es ein sehr großes Dunkelfeld gebe, sagte Oberstaatsanwalt Thomas Sander. Die Ermittler hegen inzwischen den Verdacht, dass H. noch andere Medikamente nutzte als bisher bekannt. Die Ermittlungen sollen noch über Monate weitergehen.

© SZ vom 23.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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