Die Auslastung der Psychiatrien in der Region Stuttgart ist hoch und immer häufiger zu hoch, insbesondere auf den Akutstationen. Regelmäßig komme es zu „schwierigen Situationen“ mit Patienten. Einer von verschiedenen Gründen: das neue Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz.

Lokales: Mathias Bury (ury)

Stuttgart - Die Psychiatrien in der Region Stuttgart leiden unter einer Überlastung ihrer Akutstationen. Zur Verschärfung der Lage, die mehrere Ursachen hat, trägt auch das erst seit dem Vorjahr geltende Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz bei. Seither dürfen die Kliniken auch akut schwerkranken Patienten, die eine Behandlung aber ablehnen, nur mit Zustimmung eines externen Gutachters Medikamente verabreichen.

 

Das Zentrum für Seelische Gesundheit (ZSG) in Bad Cannstatt hat sich am neuen Standort offenbar gut entwickelt. Inzwischen aber mehren sich Klagen, dass das zum städtischen Klinikum gehörende Haus stellenweise Zeichen von Überforderung zeige. Im Fokus stehen die beiden Akutstationen der Erwachsenenpsychiatrie. Rund 200 Überlastungsanzeigen von Mitarbeitern lägen dem Personalrat derzeit vor, heißt es in der Belegschaft. Alle paar Tage gerieten Pflegekräfte „in schwierige Situationen“. Eine der Stationen mit 24 Betten sei die meiste Zeit mit 30 Patienten – also mit Gangbetten – deutlich überbelegt.

Kritik: Die Zahl der Betten ist zu gering

Martin Bürgy, Ärztlicher Direktor und Leiter des ZSG, räumt die „Tendenz zur Überbelegung“ ein. Diese lässt sich auch am Auslastungsgrad ablesen, der bei 94 und 96 Prozent liegt. „Die Zahl der Betten ist zu gering“, sagt Bürgy. Zwar seien in den vergangenen Jahren in den Kliniken im Land die Kapazitäten in der Psychosomatik ausgebaut worden, also für die Gruppe der „weniger schwer kranken Patienten“, erklärt der Ärztliche Direktor. „Die Zahl der Psychiatriebetten wächst aber nicht entsprechend.“

Dabei steigen die Fallzahlen in der Alterspsychiatrie. Auch die der Suchtkranken, die in der städtischen Psychiatrie behandelt werden, nehme zu, sagt Martin Bürgy. Und Belastungsstörungen und Depressionen sind seit Jahren ein öffentliches Thema. Ein Problem im Versorgungssystem sei auch, sagt der Psychiater, dass es zu wenige Heimplätze für schwer psychisch Kranke mit chronischen Leiden gebe. „Das verstopft das System“, so Bürgy.

Kassen lehnen den Antrag des ZSG ab

Deshalb hat das ZSG einen Antrag auf 14 zusätzliche Betten vor allem im Akutbereich gestellt. Das Sozialministerium des Landes sieht diesen Bedarf und hat den Antrag befürwortet. Doch die Kassen haben dem im Landeskrankenhausausschuss bisher nicht zugestimmt. In der Leitung des städtischen Klinikums spricht man deshalb von einer „Verschleppungstaktik“.

In den anderen Psychiatrien der Region ist die Lage nicht viel anders, auch im Furtbachkrankenhaus im Stuttgarter Westen. Dort liege die durchschnittliche Jahresbelegung „bei mehr als 95 Prozent“, so eine Sprecherin. Dieser konstant hohe Wert bedeute auch „Spitzenbelegungen“. Gangbetten versuche man möglichst zu vermeiden.

Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz eine Herausforderung

„Die Ursachen summieren sich“, sagt Bürgy vom ZSG über die angespannte Lage. Ein Thema, das dabei stets genannt wird, sind die Auswirkungen des seit Anfang 2015 im Land geltenden Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz. Teil dieser Reform ist, dass Patienten in der Psychiatrie nicht mehr gegen ihren Willen medikamentös behandelt werden dürfen. Auch nicht, wenn eine Eigen- oder Fremdgefährdung vorliegt und die Betroffenen auf richterlichen Beschluss eingeliefert werden, aber keine Krankheitseinsicht haben. Sieht die Klinik dennoch keine andere Möglichkeit, dem Patienten zu helfen, muss dies von einem externen Sachverständigen befürwortet werden, den das Gericht in einem weiteren Schritt bestellt.

„Das verzögert die Behandlung“, sagt Bürgy. Selbst bei guter Zusammenarbeit mit den Gutachtern kann das auch mal zwei, drei Tage dauern. „Wir können den Patienten, dem es nicht gut geht, dann nicht aus seiner wahnhaften Situation herausbringen“, sagt Christopher Dedner, der Ärztliche Direktor im Zentrum für Psychiatrie in Winnenden, über solche Fälle. Das hat Folgen auch für das dort tätige Pflegepersonal.

Auch wenn Dedner die Absicht des neuen Gesetzes, das den Patienten mehr Beteiligungsrechte einräumt, im Grundsatz gut findet, sieht er die Psychiatrie dadurch doch in ein Dilemma geführt. „Wir haben einen ordnungspolitischen und einen therapeutischen Auftrag – aber keine Handhabe“, beschreibt Dedner den Konflikt. Dabei nehme in der Gesellschaft die Toleranz gegenüber Menschen mit „herausforderndem Verhalten“ eher ab als zu.

Als „Webfehler“ der Gesetzesreform sieht Christopher Dedner, dass den Psychiatrien nicht auch die personellen Ressourcen für den veränderten Auftrag bereitgestellt wurden. „Das ist sehr personalaufwendig“, sagt der Ärztliche Direktor. Und je enger der Raum auf einer Station, desto schwieriger sei es. Dedner: „Überbelegungen darf es da keine geben.“