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Pflegekräfte am Limit "Erschöpft, überarbeitet und ausgelaugt"

Die Finanznot deutscher Kliniken bringt Pflegekräfte in Bedrängnis. Gerade nachts arbeiten sie oft allein auf Station. Ein unvertretbares Risiko für Patienten, wie eine Studie zeigt, die SPIEGEL ONLINE exklusiv vorliegt.
Pflegekräfte eines deutschen Krankenhauses

Pflegekräfte eines deutschen Krankenhauses

Foto: Gero Breloer/ AP

Medizin ohne wirtschaftlichen Druck gibt es in keinem Krankenhaus mehr. Wie rigoros die Ökonomisierung der Gesundheit wirkt, lässt sich bei dem privat geführten Asklepios-Konzern beobachten. Anfang Juni schrieben die Schwestern und Pfleger der Station H1 der Hamburger Asklepios-Klinik-St. Georg einen Brief an die Klinikleitung und den Betriebsrat. Es ist ein Dokument der Verzweiflung. "Wir sind erschöpft, überarbeitet und ausgelaugt", heißt es da. Der Personalmangel gefährde Patienten, das "sollte Ihnen (hoffentlich) allen bewusst sein. Wir arbeiten hier mit schwerkranken Menschen zusammen und nicht mit leblosen Gegenständen".

Die Patienten auf dieser Station brauchen besondere Pflege. Es sind Krebskranke, die hier zur Strahlentherapie liegen. Nach dem Brandbrief haben sich die Zustände etwas gebessert, das Personal wurde leicht aufgestockt. Nachts wurde unter der Woche eine Zeitarbeitskraft engagiert. Asklepios sagt, eine Patientengefährdung bestehe nicht. Mehr als das Notwendigste aber ist auch damit kaum zu schaffen.

Gerade nachts wird manche Klinik zur Gefahr für Kranke. Dann arbeiten viele Pflegekräfte allein auf Station, müssen ohne Hilfe eine große Zahl von Patienten betreuen, zeigt eine Analyse der Gewerkschaft Ver.di, die SPIEGEL ONLINE exklusiv vorliegt. Private Krankenhäuser setzen sich hier unrühmlich an die Spitze.

Das Bild, das der Nachtdienstcheck der Gewerkschaft aufgrund der Aussagen von Pflegekräften in 238 deutschen Krankenhäusern zeichnet, lässt erschaudern. In der Befragung, deren Ergebnis im Februar veröffentlicht werden soll, sagen mehr als die Hälfte der Pflegekräfte, sie müssten nachts bei der Versorgung der Patienten mindestens "manchmal" oder "oft" nötige Leistungen weglassen. Das Personal fehle.

Trotz der Zustände stößt Ver.di mit der Forderung nach mehr Pflegekräften auf Widerstand. Die Klinikbetreiber scheuen die Kosten. Fast 36 Millionen Überstunden schieben die Krankenhausmitarbeiter laut einer Ver.di-Untersuchung vom Mai 2016 vor sich her. Allein um sie abzubauen, wären 17.800 zusätzliche Stellen nötig - allein fast 7.000 beim Pflegepersonal.

Private Krankenhäuser stechen besonders negativ heraus. Pflegekräfte müssen in Deutschland in privat geführten Kliniken auf mehr als einem Fünftel der Stationen in der Nacht allein mehr als 30 Patienten versorgen. Andere Krankenhausträger ziehen die Schraube nicht so fest an. In öffentlichen Häusern müssen 16 Prozent der Pflegekräfte Stationen mit solch einer hohen Patientenzahl allein bewältigen, gemeinnützige Kliniken liegen mit 19 Prozent wenigstens etwas darunter.

Ungestörte Pausen, in denen sich die Schwestern und Pfleger ausruhen konnten, waren nach Ver.di-Angaben drei Viertel der Befragten in ihrem vergangenen Nachtdienst nicht möglich. Fast 40 Prozent der Schwestern und Pfleger gaben zu, ab 30 allein zu betreuenden Patienten in der Nacht die Händedesinfektion zu vernachlässigen - wichtig für den Kampf gegen Keime. Jährlich erkranken laut der Gewerkschaft in Deutschland 400.000 bis 600.000 Patienten an sogenannten Krankenhausinfektionen, die zu einem Teil vermieden werden könnten.

Angesichts solcher Defizite steigt die Gefahr für Patienten, die Krankenhäuser werden zum Risikofaktor: 41 Prozent der befragten Pflegekräfte sagten, dass sie in den vergangenen vier Wochen eine gefährliche Situation für einen Patienten oder eine Patientin erlebt hatten - die bei mehr Personal vermeidbar gewesen wäre.

Gewinnmaximierung über Patientenwohl

Bundesweit häufen sich die Probleme, warnen Pflegekräfte vor den Folgen des Personalmangels. 5200 Gefährdungsanzeigen schrieben die Pflegekräfte bei Asklepios nach SPIEGEL-Recherchen alleine in Hamburg in nur einem Jahr.

"Die Zahl der Konflikte über zu geringe Personalzahlen bei privaten Krankenhäusern hat deutlich zugenommen", sagt Ver.di-Bereichsleiter Niko Stumpfögger. "Wir beobachten tagtäglich, was es für die Beschäftigten bedeutet, wenn Gewinnmaximierung über das Patientenwohl gestellt wird." Steigende Kosten für die Finanzierung des Gesundheitssystems haben dazu geführt, dass auch in öffentlichen und gemeinnützigen Häusern regelmäßig zu wenig Personal arbeitet.

Denn ob tagsüber oder nachts - in deutschen Kliniken muss eine Pflegekraft im Schnitt rund zehn Patienten versorgen: Deutschland ist dabei Schlusslicht unter acht Ländern in Europa. Ver.di versucht daher, die Kliniken zur Einstellung von genügend Pflegekräften zu bewegen.

In der Berliner Charité ist es der Gewerkschaft nach einem zähen Arbeitskampf im Frühjahr erstmals gelungen, sich durchzusetzen. Dort unterzeichnete die Leitung von Europas größter Universitätsklinik einen Tarifvertrag, der verbindliche Personalschlüssel vorschreibt - zumindest auf Intensivstationen: Dort soll eine Pflegekraft nun im Schnitt zwei Patienten versorgen. Bisher waren es oft bis zu fünf.

Die Politik ist gefordert

Mehr Personal, verlässliche Arbeitszeiten und einen Belastungsausgleich fordert die Gewerkschaft auch in anderen Kliniken. "Die Beschäftigten in den Krankenhäusern arbeiten bis über die Belastungsgrenze hinaus. Aber auch noch so viel persönlicher Einsatz kann den strukturellen Personalmangel nicht ausgleichen", sagt Ver.di-Experte Stumpfögger.

Einen generellen Personalschlüssel wünscht sich die Gewerkschaft zwar, sieht jedoch keine Chance, dies bundesweit Klinik für Klinik durchzuboxen. Es sei eine politische Aufgabe, für ausreichend Personal in den Krankenhäusern zu sorgen. Die Politik allerdings duckt sich bislang bei dem Thema wenn möglich weg und will sich bisher nicht auf Personalschlüssel festlegen.

Gerade Intensivstationen, wo Schwerstkranke behandelt werden, trifft die Personalnot am empfindlichsten. Selbst drei oder vier Patienten pro Pflegekraft seien unhaltbar, kritisiert Hanswerner Bause. Im September stritt der jahrelange Ärztliche Direktor der Asklepios Klinik Altona und Chefarzt der Abteilung für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin im "Hamburger Ärzteblatt" für die Empfehlung des Ärztetags: Auf einer Intensivstation für Erwachsene sollte eine Pflegekraft maximal zwei Patienten betreuen. Ausreichend Personal sei entscheidend für den Behandlungserfolg, die Patientensicherheit "und letztendlich die Einsparung von Kosten", weil Komplikationen vermieden würden, schreibt Bause in dem Fachblatt der Mediziner.

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