Kindermedizin will kostendeckende Tarife

Kinderspitäler arbeiten nicht kostendeckend. Kindermedizin verursacht einen höheren Aufwand, misst sich finanziell aber an der Erwachsenenmedizin. Defizite werden querfinanziert oder von den Kantonen getragen.

Jörg Krummenacher
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Die ärztliche Betreuung von Kindern ist besonders aufwendig. (Bild: NZZ / Karin Hofer)

Die ärztliche Betreuung von Kindern ist besonders aufwendig. (Bild: NZZ / Karin Hofer)

Die Berechnung der Tarife im Gesundheitswesen ist komplex und umstritten. So ist 2016 die Revision der nicht mehr zeitgemässen Tarifstruktur für ambulante medizinische Behandlungen (Tarmed) gescheitert. Wenig bekannt ist bis anhin die besondere Situation der Kinderspitäler, die sowohl im ambulanten wie im stationären Bereich mit zu tiefen Tarifen auskommen müssen. «Wir möchten Tarife, die die Kostenrealität in der Kinder- und Jugendmedizin korrekt abbilden», sagt Christoph Stüssi, Chefarzt der Kinderklinik am Kantonsspital Münsterlingen und Co-Präsident der IG pädiatrische Kliniken der Schweiz.

Mehr Geduld und Personal

Kindermedizin bemisst sich tarifarisch an der Erwachsenenmedizin, ist aber aufwendiger. Bei den Neugeborenen beispielsweise beträgt der generelle Deckungsgrad bei den derzeit vergüteten Tarifen lediglich 70 bis 75 Prozent.

Die höheren Aufwendungen in der Kinder- und Jugendmedizin erklärt Stüssi mit deren besonderen Eigenheiten. Kinder reagierten anders als Erwachsene, seien oft ängstlich und abwehrend und müssten schon bei einfachen Massnahmen wie einer Blutentnahme personalintensiv vorbereitet, betreut und begleitet werden. Das Anlegen einer Infusion an einem kleinen Menschen benötige drei Personen, an einem älteren Menschen eine Person. Deshalb sei in der Kindermedizin auch die sonst rentable Radiologie defizitär. Im stationären Bereich müsse zudem oft ein Elternteil mithospitalisiert und mitbetreut werden. Ein zusätzliches Handicap sieht Stüssi in den geringeren Fallzahlen, bedingt durch die limitierte Zahl junger Patienten bei dennoch vielfältigen Behandlungsursachen.

Anders ist die Situation in der Erwachsenenmedizin, auf der die bestehende Tarifstruktur basiert. Hier brächten die Patienten, im Gegensatz zu den Kindern, oft mehrere Krankheiten mit ins Spital: «Je mehr Begleiterkrankungen es gibt», sagt Stüssi, «desto mehr Geld ist das wert.»

Unerwünschte Querfinanzierung

Das führt dazu, dass die gültigen Tarife die Realität nicht abbilden – weder das System Tarmed im ambulanten Bereich noch die 2012 eingeführten Fallpauschalen für stationär erbrachte Leistungen. Die finanziellen Löcher werden entweder von den Kantonen gestopft oder in manchen Spitälern über die Erwachsenenmedizin querfinanziert – beides ist unerwünscht. Der Bündner FDP-Ständerat Martin Schmid, der die Trägerstiftung des Kantonsspitals Graubünden präsidiert, beziffert die Verluste der stationären Kinderklinik in Chur auf jährlich mehr als zwei Millionen Franken – dies «bei hohen Anstrengungen, wirtschaftlich zu arbeiten».

«Die bisher angewandten Algorithmen zur Berechnung der Tarife passen nicht für die Kindermedizin», sagt auch Agnes Genewein, Generalsekretärin der Allianz Kinderspitäler Schweiz, in der die drei grossen, eigenständigen Kinderspitäler zusammengeschlossen sind: die Universitäts-Kinderspitäler Zürichs und beider Basel sowie das Kinderspital Ostschweiz. Noch sei man damit beschäftigt, «hinter die letzten Geheimnisse dieser Algorithmen zu kommen». Gefordert sind neue Vergütungsmodelle, bei denen die Kinderspitäler nicht mit der Erwachsenenmedizin, sondern untereinander verglichen werden.

Zuschläge und höhere Pauschalen

Gemäss einer Studie, die in sechs Kinderspitälern durchgeführt wurde, liegt der tatsächliche Personalaufwand in der ambulanten Kindermedizin 20 bis 40 Prozent höher, als dies die derzeitige Tarifstruktur gemäss Tarmed vorgibt. Damit sei es erstmals gelungen, hält Genewein fest, die Unterschiede zu belegen und ein empirisch gestütztes Regelwerk für Kinderzuschläge zu formulieren. Zum Zweck einer kostendeckenden Notfallmedizin schlägt sie etwa vor, einen attraktiven Nachtzuschlag in Kombination mit einer Eintritts-Notfallpauschale für Kinderspitäler einzuführen.

Für die stationäre Kindermedizin fordert Martin Schmid entweder eine Tarifanpassung bei den Fallpauschalen oder eine spezifische Fallbeurteilung. «Es kann nicht sein», sagt Schmid, «dass die Versorgung für unsere Jüngsten schlechter ist als am Lebensende.»

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