Finger weg von meinem Regionalspital

Krankenhäuser zu schliessen, ist wegen des Widerstands in der Bevölkerung politisch kaum machbar. Die Kantone versuchen deshalb, mit anderen Mitteln Geld zu sparen.

Simon Hehli, Erich Aschwanden, Jörg Krummenacher, Andrea Kucera
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Die Dichte an Spitalstandorten in der Schweiz ist eine der höchsten in Europa. (Bild: Magali Girardin / Keystone)

Die Dichte an Spitalstandorten in der Schweiz ist eine der höchsten in Europa. (Bild: Magali Girardin / Keystone)

Bis auf den letzten Platz ist der Saal gefüllt. Die Bevölkerung ist ins Volkshaus von La Chaux-de-Fonds geströmt, um mehr über die Initiative «Für zwei unabhängige und komplementäre Spitäler» zu erfahren. Neuenburg steht vor einer wichtigen Weichenstellung: Die Bürger entscheiden am 12. Februar darüber, ob es im Kanton weiterhin zwei Akutspitäler geben soll – jenes in der Kantonshauptstadt und jenes in der grössten Stadt, La Chaux-de-Fonds. «Um die Zukunft des Kantonsspitals zu sichern, muss die Akutmedizin an einem Standort konzentriert werden», argumentiert der Neuenburger Gesundheitsdirektor Laurent Kurth. «Es ist nicht rentabel, zwei Spitäler parallel zu betreiben.»

Das Spital von La Chaux-de-Fonds will die Regierung deshalb in eine Reha-Klinik umwandeln. Und hat damit Widerstand im betroffenen Neuenburger Jura provoziert. Die Initianten fordern, dass das gefährdete Spital weiterbetrieben wird, und zwar von einem privaten Anbieter. «Die Zukunft gehört kleinen Regionalspitälern», ruft Claude-André Moser, Hausarzt und Kopf des Initiativkomitees, den Zuhörern zu und erntet damit Applaus. Auch die Stadtregierungen von La Chaux-de-Fonds und Le Locle stehen hinter seinem Anliegen.

Ein politisch fataler Zug

Das Beispiel Neuenburg ist typisch: Sobald irgendwo in der Schweiz eine Spitalschliessung droht, kochen die Emotionen hoch. Dies, obwohl die hiesige Dichte an Spitalstandorten eine der höchsten in Europa ist. Und obwohl eine Umfrage im Auftrag des Spitalverbandes H+ zeigt, dass eine Mehrheit der Bevölkerung der Meinung ist, dass sich die Schweiz ein derart gut ausgebautes Spitalnetz nicht mehr leisten könne. Doch wenn es um das Spital in der eigenen Region geht, sieht es schnell anders aus. Dies nicht nur wegen der medizinischen Versorgung: Die Spitäler sind auch einer der wichtigsten Arbeitgeber, laut Bundesamt für Statistik bieten sie über 150 000 Vollzeitstellen. Gerade in strukturschwachen Randgebieten würde es sich schmerzhaft bemerkbar machen, wenn diese Jobs wegfielen.

Ein Bonmot besagt, dass kein Gesundheitsdirektor die Schliessung eines Spitalstandortes politisch überlebt. Ein Beispiel dafür ist der St. Galler CVP-Regierungsrat Anton Grüninger, der 2004 die Wiederwahl verpasste. Es war die Quittung für seinen Versuch, die Regionalspitäler Altstätten, Wattwil, Flawil, Wil und Rorschach zu schliessen. Angesichts dieser Umstände hat sich in den letzten Jahren ein typisch schweizerischer Kompromiss herausgebildet. Einzelne Standorte werden zwar nicht aufgehoben. Aber es kommt – zumindest auf dem Papier – zu einer Konzentration: Einst eigenständige Spitäler schliessen sich zusammen. Dadurch ist die Anzahl der Unternehmen seit 2002 um fast 40 Prozent gesunken. 2015 gab es noch 288 Spitäler, die jedoch an 569 Standorten tätig waren.

Einer der Treiber für die Konzentration ist die neue Spitalfinanzierung, die seit 2012 in Kraft ist. Das System der Fallpauschalen führt dazu, dass Spitäler mit vielen Patienten einen Wettbewerbsvorteil haben. Sie können Eingriffe quasi am Fliessband und dadurch kosteneffizient vornehmen. Betriebe mit kleinem Einzugsgebiet geraten hingegen unter Druck, wie sich exemplarisch im Kanton Appenzell Ausserrhoden zeigt, der ähnlich wie der Kanton Neuenburg zwei Akutspitäler betreibt. Diese schreiben rote Zahlen in Millionenhöhe.

In einem ersten Schritt wird in Heiden nun die Chirurgie mit 45 Arbeitsplätzen gestrichen und an eine Privatklinik ausgelagert. Gefährdet ist auch die Geburtsabteilung. Ein Spitalverbund gemeinsam mit Appenzell Innerrhoden scheiterte. Die Folge: Am Spital in Appenzell musste die Grundversorgung massiv eingeschränkt werden. Seit 2012 können die Innerrhoderinnen nicht mehr im eigenen Kanton gebären, was an der Landsgemeinde zu empörten Wortmeldungen von Frauenseite führte.

Kein Gesundheitsdirektor überlebt
die Schliessung
eines Spitalstandortes.

Schon weiter im Konzentrationsprozess sind andere Regionen, etwa St. Gallen. Die Proteste des Volkes haben bewirkt, dass dort weiterhin alle neun Spitäler vorhanden sind. Die acht Regionalspitäler bieten nun aber die Grundversorgung an, das Kantonsspital St. Gallen stellt die spezialisierte und überregionale Versorgung sicher. Im Baselbiet sind die drei Standorte Liestal, Bruderholz und Laufen unter einem Dach zusammengefasst, auch die Zusammenarbeit mit dem Universitätsspital von Basel-Stadt wird intensiviert. Spezialisierung gibt es hier ebenfalls: Das Spital Laufen widmet sich vorwiegend Schmerztherapien und der Rehabilitation, im Bruderholz soll es künftig nur noch ambulante Eingriffe geben. Ohnehin nimmt die Zahl der Spitalbetten ab. Mit noch 4,6 Betten pro 1000 Bewohner liegt die Schweiz unter dem EU-Durchschnitt. Das ist auch politisch erwünscht: Immer mehr Eingriffe lassen sich ohne Übernachtung vornehmen, was die Kosten senkt.

Über die Kantonsgrenze hinaus arbeiten auch Luzern und Nidwalden zusammen. Seit fünf Jahren werden die beiden Kantonsspitäler aus einer Hand geführt. Konkret heisst dies, dass die medizinischen Leistungen der beiden Spitäler aufeinander abgestimmt werden. So ist in Stans eine erweiterte Grundversorgung sichergestellt. Für medizinische Leistungen, die das Regionalspital nicht abdeckt, werden die Patienten aus Nidwalden nach Luzern überwiesen. So soll eine hohe Qualität sichergestellt sein – auch dies ist ein Argument, das für eine stärkere Konzentration spricht. Denn je mehr Eingriffe die Ärzte eines Spitals vornehmen, umso grösser ist ihre Routine. Einen Spareffekt erhofft man sich in der Innerschweiz, wenn die beiden Spitäler in einem nächsten Schritt fusionieren. Entsprechende Gesetzesvorlagen sollen in beiden Kantonen noch in diesem Jahr ins Parlament gehen.

Der Krankenkassenverband Santésuisse zeigt sich jedoch skeptisch: Die Fusionswelle in der Spitallandschaft habe nicht zu einer finanziellen Entspannung geführt, sagt Direktorin Verena Nold. Im Gegenteil: Von 2011 bis 2015 stiegen die Kosten im stationären Bereich von 5,7 auf 6,9 Milliarden Franken. «Die Schliessung von Spitälern ergibt kurzfristig kaum Sparpotenzial, weder für die Krankenversicherer noch für die Prämienzahler», so Nold. Denn Patienten, die nicht in der Nähe ihres Wohnsitzes behandelt werden könnten, gingen einfach in ein anderes Spital.

Teuer wird es auch werden, die Spitalinfrastruktur auf den neusten Stand zu bringen: Experten gehen davon aus, dass in den nächsten Jahren 15 bis 20 Milliarden Franken verbaut werden. Die Spitäler wollen sich fit machen für den Wettbewerb und müssen daher ihre veralteten Gebäude sanieren. Davon profitieren auch kleine Regionalspitäler, im Kanton St. Gallen etwa jene in Wattwil oder Grabs, im Kanton Luzern jenes in Wolhusen. Solche Investitionen wiederum führen dazu, dass die Spitaldichte auch in Zukunft nicht abnehmen dürfte – denn wer schliesst schon ein für viel Geld frisch aufgemöbeltes Spital?

Spital für Kinder von morgen

Zurück nach Neuenburg. Stimmt die dortige Bevölkerung am 12. Februar Ja, wird der Kanton eine Vorreiterrolle einnehmen. Er hätte nur noch ein öffentliches Akutspital für seine 180 000 Einwohner. Im schweizerischen Schnitt versorgt ein Akutspital 112 000 Personen. Den «reinen Wahnsinn» nennt eine Bewohnerin von La Chaux-de-Fonds an der Diskussion im Volkshaus deshalb die Vorlage. Für Gesundheitsdirektor Kurth ist die Restrukturierung ein überfälliger Schritt, es sei nur eine Frage der Zeit, bis die anderen Kantone nachzögen. «Wir haben die Wahl», sagt Kurth: «Entweder wir versuchen das Kantonsspital unserer Kindheit zu retten – oder aber wir bauen das Spital für unsere Kinder von morgen.»