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Was ein Leben kosten darf: Das Dilemma der Mediziner

«Implizite Rationierung»: Jukka Takala, Chefarzt der Intensivmedizin im Inselspital Bern. Foto: Esther Michel

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Die Kosten im Gesundheitswesen steigen ständig. Jedes Jahr bezahlen die Bürger mehr für Krankenkassenprämien, weil teure Medikamente und die Hightech-Medizin die Preise in die Höhe treiben. Kann das ewig so weitergehen? Oder ist die Zeit reif für ein Tabuthema – die Frage nämlich, wie viel ein längeres Leben kosten darf?

Der Basler Gesundheitsökonom Stefan Felder fordert einschneidende Massnahmen. Er will eine Rationierung der medizinischen Leistungen für Grundversicherte. «Nicht alles, was medizinisch machbar ist, ist für die Allgemeinheit auch bezahlbar», sagt er. Die Grundversicherung stosse an finanzielle Grenzen.

Nutzlose Kreuzbänder-Operation am Knie

Er will Leistungen streichen: so etwa die Operation der Kreuzbänder am Knie, die sich als sinnlos erwiesen habe. Oder das Brustkrebs-Screening und die Prostatakrebs-Vorsorgeuntersuchung; er will gar darüber diskutieren, ob über 85-Jährige noch neue Hüft- und Kniegelenke erhalten sollen.

«Wir sollten Behandlungen, bei denen das Kosten-Nutzen-Verhältnis ungünstig ist, streichen und der privaten Zusatzversicherung überlassen», sagt er. Und er geht noch weiter: Ein «qualitätsbereinigtes Lebensjahr», wie dies im Jargon der Ökonomen heisst, dürfe gemäss Felder maximal 150 000 Franken kosten. Das heisst: Nur wenn eine Therapie mindestens ein ganzes zusätzliches Jahr mit guter Lebensqualität ermöglicht, darf sie so viel kosten – sonst würde sie schlicht nicht bezahlt. Der Preis für ein halbes «qualitätsbereinigtes Lebensjahr» läge entsprechend bei 75 000 Franken.

Vielen Krebspatienten würde Behandlung verweigert

So provokativ seine Forderungen sind – Felder trifft einen wunden Punkt. Tatsächlich ist die Bevölkerung nicht bereit, unbegrenzt hohe Kosten solidarisch über die Prämien zu finanzieren. Laut einer kürzlich publizierten Studie des Schweizer Nationalfonds darf aus Sicht der Prämienzahler ein weiteres Lebensjahr eines über 70-jährigen Krebspatienten 55 000 Franken kosten. Für Jüngere liegt der Betrag bei 110 000 Franken. Die Studie zeigt auch: Die Kosten für ein Viertel der Betagten und neun Prozent der Jüngeren liegen heute deutlich darüber. Würde man Felders Modell eins zu eins umsetzen, würde heute jedem vierten betagten und sogar jedem zehnten jüngeren Krebskranken die teure Behandlung verweigert.

Damit könnten sich gewisse ­lebensverlängernde Massnahmen nur noch Reiche leisten. Eine Zweiklassenmedizin gebe es aber auch heute schon, sagt Felder. Im Versteckten. «Die Ärzte rationieren implizit. Damit hängt davon ab, in welchem Spital oder von welchem Arzt ein Patient behandelt wird, was er bekommt», sagt er.

Wille und Wohl des Patienten

Stimmt das? Werden in Schweizer Spitälern und Arztpraxen Behandlungen, die das Leben verlängern oder dessen Qualität verbessern könnten, nicht verordnet, weil sie teuer sind? Die SonntagsZeitung hat über 60 Spitzenmediziner aus den Bereichen Intensivmedizin und Onkologie dazu befragt.

Das Thema bewegt die Mediziner – das zeigen die vielen Reaktionen. Alle betonen, dass bei der Entscheidung für oder gegen eine Therapie der Wille und das Wohl des Patienten im Zentrum stehen. Für etwa die Hälfte der Angefragten – darunter viele Ärzte aus der Westschweiz – darf Geld keine Rolle spielen.

Rationierung ist kein Schimpfwort

Doch die andere Hälfte spricht über das Dilemma, in dem sie stecken. Sie bewegten sich in einer Grauzone, sagen sie. Sie müssten das Wohl der Patienten, aber auch die Finanzen im Auge behalten. «Bei jedem Patienten sollten bei exzessiv teuren Therapiemöglichkeiten Kostenüberlegungen mit in Entscheide einbezogen werden. Sie stehen nicht im Vordergrund, sie sind aber im Hintergrund präsent», sagt ein leitender Arzt.

Für Jukka Takala, Chefarzt der Universitätsklinik für Intensivmedizin im Inselspital in Bern, ist Rationierung kein Schimpfwort, wie der Finne sagt. «Es findet in unserem Alltag eine implizite Rationierung statt, das ist wahr.» Da die Ressourcen begrenzt seien, müsse er sie so einsetzen, dass sie an erster Stelle denen zugutekämen, die eine gute Überlebenschance hätten.

Leidensverlängerung, die viele Patienten nicht wollen In seinem Spital komme es vor, sagt Georg Mang, Chefarzt der Inneren Medizin im Kantonsspital Uri in Altdorf, dass ein einziger Fall das ganze Budget über den Haufen werfe. Er spricht von Therapien, die mehr als 1500 Franken kosten – am Tag.

Der medizinische Fortschritt verschärft das Dilemma der Ärzte noch. Sie können immer mehr Organfunktionen vorübergehend ersetzen. Sie könnten, wenn sie alle zur Verfügung stehenden Massnahmen einsetzten, den Sterbeprozess bei vielen Patienten um Wochen oder gar Monate verlängern. Doch das sei eine Leidensverlängerung, die viele Patienten nicht wollten, sagen Mediziner. Sie nehmen damit den Ärzten die schwierige Entscheidung ab. Es gebe gar Kranke, die auf Behandlungen verzichteten, obwohl der Arzt Überlebenschancen sehe, sagt Intensivmediziner Takala.

Kasse deckt nur einen Teil der Medikamentenkosten

Manchmal brauchten Todkranke schlicht noch etwas Zeit, sagt Professor Hansjörg Senn, Onkologe und Gründer des Tumor- und Brustzentrums ZeTuP in St. Gallen. «Besonders jüngere Krebspatienten brauchen vor dem Sterben Zeit, um ihre irdischen Probleme zu regeln. Sei es, um von Kindern Abschied zu nehmen, um noch einen Geburtstag in ein paar Wochen zu erleben, oder einfach, um sich auf das Unausweichliche vorzubereiten», sagt er. Auch wenn dies teuer sei – die Gesellschaft müsse bereit sein, das zu finanzieren.

Doch wo liegt die Grenze? Was ist noch bezahlbar – und was nicht? Das Beispiel eines 51-jährigen Krebspatienten zeigt, was mit Kranken passiert, die «zu teuer» sind. Der Mann hat nicht mehr lange zu leben – mit Chemotherapie noch ein Jahr, so die Prognose seines Arztes. Doch es gibt ein Medikament, das diese Zeit um weitere zehn Monate verlängern würde. Kostenpunkt: 13 000 Franken pro Monat. Die Krankenkasse deckt davon nur einen Teil. Jetzt hängt alles davon ab, ob er den Rest selber bezahlen kann. Verdient er gut, dann geht das. Wenn nicht, wird er früher sterben.

Jeder Patient sei anders

Rahel Hautle, Onkologin in St. Gallen, will in solchen Fällen die Gesellschaft in die Pflicht nehmen. «Heute wird vor allem über zu hohe Kosten gejammert und dabei Druck auf Mitarbeitende im Gesundheitswesen gemacht, anstatt darüber zu diskutieren, was man will.» Sie nennt ein Beispiel: Laufend kämen für die Behandlung von bösartigen Erkrankungen des Knochenmarks neue Substanzen auf den Markt, die pro Monat je deutlich über 10 000 Franken kosten. Die Forschung lege nahe, sie zwecks besserer Wirksamkeit miteinander zu kombinieren. «Das würde mehrere Zehntausend Franken kosten pro Monat. Ob und für wen das dann noch finanzierbar ist, muss die Gesellschaft entscheiden – nicht ich alleine», sagt Hautle.

Die Ärzte wollen keine Einschränkung ihrer Therapiefreiheit und für Behandlungen keine rigorosen Preislimiten, die für alle gelten sollen. Jeder Patient sei anders, Krankheitsverläufe liessen sich deshalb nicht vereinheitlichen. Nicht an der Lebensqualität der Alten sparen

Doch die Mediziner wünschen sich Entscheidungshilfen. Die Schweizer Gesellschaft der Intensivmediziner ist zurzeit daran, nach wissenschaftlicher Prüfung eine Liste von Behandlungen mit geringem Nutzen zu erstellen.

Und für extrem teure Interventionen seien gewisse Abstriche bei den bezahlten Leistungen denkbar, sagen die Ärzte. «Künftig könnte das beispielsweise das künstliche Herz sein. Die Risiken sind schwer abschätzbar, und die Kosten sind hoch», sagt Takala. Und Chefarzt Mang fragt sich, ob es für eine Prostataoperation das teure «Da-Vinci-System» brauche, bei dem der Operateur von einem Roboter assistiert werde: «Wer das will, könnte es privat bezahlen.»

Doch bei der Lebensqualität der Alten will er nicht sparen. Er ist kategorisch dagegen, für über 85-Jährige generell neue Hüftgelenke zu rationieren. «Es gibt alte Leute, die noch sehr rüstig sind und wandern gehen. Für die wäre das fatal.»

recherchedesk@sonntagszeitung.ch