"Es macht einen krank" – Seite 1

Je länger Inge Klaaßen über ihre Arbeit spricht, desto verzweifelter klingt sie. "Es ist einfach nur furchtbar", sagt die Krankenschwester, die seit Jahrzehnten in einer großen Klinik im Saarland arbeitet und ihren wahren Namen nicht nennen möchte, weil sie Konsequenzen fürchtet. Auf der Intensivstation sei sie an manchen Tagen als Pflegekraft allein für vier Patienten zuständig.

"Wenn ich mit einem Patienten zur Computertomographie gehe, werden die anderen stundenlang nicht adäquat versorgt", sagt sie. Dann überwachten nur Maschinen und Monitore die Patienten, und im schlimmsten Fall könne der Kollege nebenan auf einen Herzstillstand reagieren. "Pflege aber findet kaum noch statt."

Am Ende ihrer Schicht wisse sie oft: "Wieder habe ich vieles nicht geschafft. Die Verbände sehen nicht gut aus, die Münder sind nicht sauber." Sie habe kaum Zeit, die Patienten in ihren Betten zu wenden, um zu vermeiden, dass sie wund liegen. "Es macht einen selbst krank, wenn man ständig mit diesem Gefühl nach Hause gehen muss, dass die Patienten nicht so behandelt werden konnten, wie es eigentlich sein sollte."

Über 90 Prozent fühlen sich gehetzt

Die saarländische Krankenschwester will das nicht länger hinnehmen und könnte, wie Zehntausende Pflegekräfte in Deutschland, deshalb bald streiken. Sie wollen etwas wagen, das bisher noch niemand in der Bundesrepublik getan hat: Die Beschäftigten von Hunderten Krankenhäusern könnten sich in diesem Jahr, dem Jahr der Bundestagswahl, zu einem bundesweiten Arbeitskampf verabreden, um mehr Personal in Krankenhäusern zu fordern.

Normalerweise streiken in Deutschland die Busfahrer, die Geldboten oder das Bodenpersonal an Flughäfen, wenn sie mehr Geld von ihren Arbeitgebern verlangen. Dass Beschäftigte aber feste Vorgaben für die Personalbesetzung in Unternehmen fordern – das ist neu.

Die Vorhut der Kampagne bildeten im vergangenen Jahr die Pflegekräfte der Charité-Kliniken: Sie zwangen das Land Berlin als Träger in ausgedehnten Streiks, sich per Tarifvertrag zu einem Personalschlüssel zu verpflichten. Erstmals überhaupt wurden für bestimmte Stationen wie der Intensivmedizin oder der Kinderklinik genaue Mindestbesetzungen festgeschrieben.

Hinter der Aktion stand die Gewerkschaft Ver.di, die jetzt ihre Kampagne ausweitet – zunächst auf das Saarland, das als Testgebiet für die bundesweite Mobilisierung dienen soll. Schließlich wird Ende März dort eine neue Landesregierung gewählt. "Wir haben alle 21 Kliniken des Landes zu Verhandlungen über einen Tarifvertrag aufgefordert", sagt Ver.di-Vorstandsmitglied Sylvia Bühler. "Für uns ist es enorm wichtig, die Erfahrungen im Saarland sorgfältig auszuwerten und daraus Schlussfolgerungen für das weitere Vorgehen in dieser Tarifbewegung zu ziehen." Die Situation der Krankenhausbeschäftigten sei "nicht nur im Saarland katastrophal". Es gebe bundesweit viel zu wenig Personal, vor allem in der Pflege.

In einer eigenen Erhebung kam Ver.di zu dem Schluss, dass bundesweit 162.000 Stellen in Krankenhäusern fehlten, davon allein 70.000 in der Pflege. Die Erkenntnisse spiegeln sich in einer aktuellen Befragung des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB), die ZEIT ONLINE exklusiv vorliegt. Mehr als 60 Prozent der befragten Pflegekräfte in Krankenhäusern geben darin an, sie hätten das Gefühl, in den letzten zwölf Monaten mehr Arbeit in der gleichen Zeit schaffen zu müssen als früher. "Der Anteil derjenigen, die sich in der Arbeit gehetzt fühlen, liegt mit 93,4 Prozent extrem hoch", schreiben die Autoren. Die Ursache sähen fast 92 Prozent der Betroffenen in einer zu knappen Personalbemessung.

"Es bleibt keine Zeit, einen Schluck Wasser zu geben"

Die Krankenschwester Klaaßen weiß, dass es vielen Kolleginnen und Kollegen in ihrer Klinik ähnlich geht wie ihr. In einigen Bereichen etwa würden Früh-, Spät- und Nachtschichten von fünf Mitarbeitern bestritten, und nachts kümmere sich eine einzige Pflegekraft um die ganze Station mit bis zu 30 Patienten. Mitunter kämen noch weitere Patienten in der ambulanten Notaufnahme hinzu. "Es bleibt keine Zeit, den Menschen einen Schluck Wasser zu geben", sagt Klaaßen.

Die Situation in ihrer Klink habe sich vor allem in den letzten Jahren seit Einführung des Abrechnungssystems der Fallpauschalen verschlechtert. Es würden mehr Patienten mit größerem Behandlungsbedarf aufgenommen, weil sich das für die Klinik lohne.

Die offiziellen Statistiken belegen Klaaßens Wahrnehmung. Bundesweit ist die Zahl der behandelten Patienten in den vergangenen zehn Jahren deutlich gestiegen, von 16,8 Millionen Fällen im Jahr 2005 auf 19,2 Millionen im Jahr 2015. Im gleichen Zeitraum jedoch ist die Zahl der Pflegekräfte in den deutschen Krankenhäusern nur moderat um etwa 18.500 Stellen angewachsen. Obwohl insgesamt weniger Ärzte an Krankenhäusern arbeiten als Pflegekräfte, stieg deren Zahl stärker, und zwar von 121.000 auf 154.000 Stellen.

Man könnte nun annehmen, dass diese Auseinandersetzung wie in anderen Branchen weiterläuft. Die Gewerkschaft fordert die Arbeitgeberverbände zu Tarifverhandlungen auf – und wenn es in den Gesprächen nicht weitergeht, streiken die Pflegekräfte eben. So einfach ist die Sache jedoch nicht.

Die knapp 2.000 Krankenhäuser in Deutschland sind sehr unterschiedlich organisiert. Etwas mehr als ein Drittel wird von privaten Unternehmen geführt, ein weiteres Drittel von gemeinnützigen Organisationen wie Kirchen und Wohlfahrtsverbänden, der Rest befindet sich in kommunaler oder landeseigener Trägerschaft. Bisher wurden daher nur Haustarifverträge für einzelne Kliniken mit den jeweiligen Trägern abgeschlossen. Einen Flächen- oder Branchentarif gibt es gar nicht. Die Initiative von Ver.di ist also auch in dieser Hinsicht eine Premiere.

Die Arbeitgeber aber sind verunsichert. Sie wissen nicht, wer überhaupt ein Verhandlungsmandat für die unterschiedlichen Träger einnehmen kann, ob nun auf Bundes- oder Landesebene. Ohnehin nehmen sie den Pflegenotstand anders wahr.

Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG),der Dachverband der Krankenhausträger, sieht sich nicht in der Rolle, die Arbeitgeber in Tarifverhandlungen zu vertreten. Auf Anfrage räumt die DKG ein, dass "die Belastung aller im Krankenhausbereich arbeitenden Menschen extrem hoch" sei. Eine einfache Relation zwischen Fallzahl und Beschäftigten sei aber wenig aussagekräftig und die Messung des tatsächlichen Bedarfs nur schwer möglich. "In eine solche Betrachtung muss auch die Verweildauer im Krankenhaus und die Fallschwere mit einbezogen werden", heißt es. "Grundsätzlich liegen wir mit diesen Parametern im europäischen Mittel."

Vor allem stelle sich für die Arbeitgeber eine Frage: Wie soll eine höhere Personalausstattung bezahlt werden, wenn viele Krankenhäuser schon jetzt unter hohem Sparzwang stünden?

Politischen Druck im Wahljahr erzeugen

Krankenhäuser finanzieren sich in Deutschland über zwei Kanäle. Die laufenden Betriebskosten werden von den gesetzlichen Krankenkassen getragen und jedes Jahr über  Fallpauschalen abgerechnet, die pro Patient – je nach Erkrankung – einen bestimmten Betrag garantieren. Die Investitionskosten hingegen, etwa für die Anschaffung medizinischer Geräte, übernehmen die Bundesländer. Allerdings ist bekannt, dass die Länder zu zögerlich Mittel freigeben und die Krankenhäuser dringend notwendige Anschaffungen deshalb aus dem Betriebsetat bestreiten. Das wiederum schmälert das Budget für das Personal.

Deshalb sehen sowohl die Gewerkschaft als auch die Arbeitgeber die Politik in der Verantwortung. "Wir fordern von der Bundesregierung eine gesetzliche Vorschrift zur Personalbemessung an allen Krankenhäusern", sagt die Ver.di-Spitzenfunktionärin Bühler. Die Gewerkschaft wolle das Wahljahr 2017 nutzen, um politischen Druck zu machen. Am Ende müsse es eine gesetzliche und bundesweite Regelung geben, die einen genauen Personalschlüssel vorschreibe.

Unternehmerische Freiheit angegriffen?

Die Deutsche Krankenhausgesellschaft sagt, sie sei "nicht der Auffassung, dass dies Angelegenheit der Tarifpartner ist". Aus Sicht der Arbeitgeber gehört die Verhandlung über Personalstärken nicht in den Tarif, sondern ins Gesetz. In Berlin hatte die Arbeitgeberseite deshalb gegen den Streik in der Berliner Charité vor dem Arbeitsgericht geklagt – und scheiterte. Das Gericht entschied, dass die unternehmerische Freiheit dort ende, wo "der Gesundheitsschutz der Mitarbeiter" beginne. Die Beschäftigten der Charité durften weiter streiken und erreichten am Ende ihr Ziel.

Trotzdem bekräftigt die DKG, dass "die Diskussion auf politischer Ebene geführt" werden müsse. Doch hier zeichnet sich wenig Gesprächsbereitschaft ab. Das von dem CDU-Politiker Hermann Gröhe geführte Bundesgesundheitsministerium teilt mit: "Seit 2016 bis 2018 stehen insgesamt bis zu 660 Millionen Euro pro Jahr zur Verfügung, damit Krankenhäuser mehr Pflegekräfte einstellen können, zum Beispiel für die Betreuung von demenzkranken und pflegebedürftigen Patienten." Damit könnten in den nächsten drei Jahren circa 6.000 neue Stellen geschaffen werden. Um diese Stellen dauerhaft zu finanzieren, würden ab 2018 jährlich 330 Millionen Euro für die Pflege zur Verfügung gestellt.

Angesichts der Forderungen der Gewerkschaft nach 70.000 neuen Stellen klingen diese Zahlen niedrig. Doch das Ministerium verweist darauf, dass die im Jahr 2015 beschlossene Krankenhausreform den Kliniken in den kommenden Jahren mehrere Milliarden Euro zusätzlich bringe, die auch dem Personal zugute kämen.

Die Ver.di-Kampagne im Saarland scheint unterdessen erste Ergebnisse zu bringen, obwohl sich die Arbeitgeber der 21 Krankenhäuser nicht zu offiziellen Tarifgesprächen bereit erklärt haben. Noch bevor es zu einem Warnstreik kam, hat sich die Landesgesundheitsministerin Monika Bachmann (CDU) in die Auseinandersetzung eingeschaltet. Das Saarland werde eines der ersten Bundesländer sein, das in der Krankenhausplanung solche verpflichtende Vorgaben zur Besetzung von Pflegestellen aufnimmt, sagte Bachmann. Würden diese Vorgaben von den Krankenhäusern nicht erfüllt, werde es Sanktionen gegen die Kliniken geben.

Solange es aber bei Ankündigungen im Wahlkampf bleibe, wollen sich die Beschäftigten nicht vom Arbeitskampf abhalten lassen. "Wir führen derzeit auch außerhalb des Saarlands die Diskussion mit den Beschäftigten, informieren sie über Handlungsmöglichkeiten und ermutigen sie, dass sie ihre Rechte wahrnehmen", sagt Bühler. Den deutschen Krankenhäusern könnten schon in naher Zukunft große Streiks bevorstehen.