Ärzte greifen zu schnell zum Skalpell

Die Fallpauschalen verleiten Spitäler dazu, möglichst viele lukrative Operationen vorzunehmen – selbst unnötige. Auch in anderen Bereichen des vor fünf Jahren eingeführten Systems gibt es Handlungsbedarf.

Simon Hehli
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Je mehr Operationen, desto besser fürs Spital: Das System der Fallpauschalen hat Nebenwirkungen. (Bild: Annick Ramp / NZZ)

Je mehr Operationen, desto besser fürs Spital: Das System der Fallpauschalen hat Nebenwirkungen. (Bild: Annick Ramp / NZZ)

Nein, dieses Jubiläum mag Margrit Kessler nicht feiern. Gut fünf Jahre rechnen die Schweizer Spitäler nun schon mit Fallpauschalen ab – und die Präsidentin der Schweizerischen Patientenorganisation findet, der Systemwechsel habe vor allem negative Auswirkungen gebracht. Da sind erstens die «blutigen Entlassungen»: Weil die Spitäler einen fixen Betrag pro Behandlung erhalten, sind sie laut Kessler versucht, vor allem hochbetagte Patienten vorschnell nach Hause oder zurück ins Pflegeheim zu schicken, um Geld zu sparen.

Es ist allerdings umstritten, wie ausgeprägt das Phänomen wirklich ist, das vor Einführung der Fallpauschalen am 1. Januar 2012 in den Medien ein grosses Thema war. Nach knapp zwei Jahren sagten zwei Drittel der für eine Nationalfondsstudie befragten Spitalärzte, sie seien schon Zeuge von zu frühen Entlassungen geworden. 2014 gab der Spitalverband H+ jedoch Entwarnung: Die Qualität der Behandlungen habe nicht gelitten. Auch Michael Kleinknecht und Rebecca Spirig vom Zürcher Universitätsspital, die die Auswirkungen des DRG-Systems auf die Pflege untersuchen, haben keine Hinweise auf blutige Entlassungen entdeckt.

«Fälle generieren» lohnt sich

Aus Sicht von Patientenschützerin Kessler ist aber ohnehin ein anderes Problem noch grösser: die Zunahme von Operationen. Die Spitäler sind einem schärferen Wettbewerb ausgesetzt. Gesamtschweizerisch sind für die nächsten Jahre Investitionen von rund 20 Milliarden Franken in die überalterte Krankenhausinfrastruktur geplant. Die dafür nötigen Überschüsse müssen die Spitäler unter dem neuen Regime grösstenteils selber erwirtschaften. Das machen sie laut Kessler, indem sie eine Mengenausweitung betreiben: «Je mehr Eingriffe ein Spital vornehmen – also ‹Fälle generieren› – kann, umso mehr verdient es», sagt sie. Die Folge sei, dass es auch überflüssige Operationen gebe. «Das belastet die kantonalen Finanzen sowie die Prämienzahler – und bringt auch vielen Patienten Leid ein.»

Patientenvertreterin Margrit Kessler sieht das Fallpauschalensystem sehr kritisch. (Bild: Gaëtan Bally / Keystone)

Patientenvertreterin Margrit Kessler sieht das Fallpauschalensystem sehr kritisch. (Bild: Gaëtan Bally / Keystone)

Ein Beispiel sind laut Kessler Blinddarmoperationen: «Wenn ein Spital einen Patienten, bei dem es nur gewisse Hinweise auf eine Blinddarmentzündung gibt, einfach zwei Tage lang zur Beobachtung dabehält, bekommt es dafür fast kein Geld – also ist die Verlockung gross, vorschnell eine Operation anzusetzen.» Speziell lukrativ sind im DRG-System Operationen, die planbar sind und bei denen sich die Prozesse quasi fabrikmässig optimieren lassen – so sinken die «Stückkosten».

In einem «Beobachter»-Artikel spricht Gefässchirurg Jürg Schmidli vom Berner Inselspital von einer zunehmend kompromittierten Freiheit der Ärzte, medizinisch und ethisch zu entscheiden: Das Spitalmanagement mache Druck, den «Case-Mix» zu verbessern – also mehr betriebswirtschaftlich lohnende Operationen zu machen. Dass in der Schweiz im internationalen Vergleich besonders häufig künstliche Hüft- und Kniegelenke eingesetzt werden, hat laut Patientenschützerin Kessler ebenfalls mit dem Fallpauschalensystem zu tun.

Die Patienten sind mitschuldig

Statistisch lässt sich ein solcher Zusammenhang zwar derzeit nicht belegen: Im Jahr 2014 gab es beispielsweise weniger Hüftgelenkersatz-OP als 2010 und 2011. Jürg Unger, der beim Ärzteverband FMH für das Dossier stationäre Versorgung zuständig ist, erkennt dennoch ebenfalls eine grundsätzliche Tendenz zur Mengenausweitung. Mitbeteiligt an der steigenden Anzahl Operationen seien neben den Spitälern aber auch die Patienten, betont der Psychiater. Sie würden heute schneller eine medizinische Intervention fordern. «In Zeiten, in denen immer alles sofort geschehen muss, fehlt das Verständnis dafür, dass der Körper manchmal einfach Zeit braucht, um wieder gesund zu werden.»

Ein weiterer Faktor ist, dass kleinere Spitäler unter Druck geraten. Der Kanton Zürich schreibt Mindestfallzahlen vor, um sicherzustellen, dass die Chirurgen genügend Routine aufweisen. Wenn die Spitalverantwortlichen fürchten, dass ihre Institution bei gewissen Eingriffen unter die kritische Grenze rutscht, könnten sie versucht sein, die Anzahl Operationen künstlich hochzuhalten.

Lieber eine Zweitmeinung einholen

Bernhard Wegmüller, Direktor des Spitalverbandes H+, hält die Vorwürfe – der «Beobachter» schreibt gar vom «fatalen OP-Wahn» – für übertrieben und spricht von Einzelfällen. «Wenn die Krankenkassen Verdacht schöpfen, können sie Kostengutsprachen verweigern.» Und den Patienten rät er, in Übereinstimmung mit Patientenschützerin Kessler, bei Unsicherheit vor einem Eingriff eine Zweitmeinung einzuholen.

Günstiger sind die Spitäler durch die Fallpauschalen nicht geworden – das Ausgabenwachstum ist jedoch geringer als im ambulanten Bereich. Die grosse Errungenschaft des DRG-Systems ist ohnehin eine andere, da sind sich so gut wie alle Interessengruppen einig: Seit 2012 lassen sich erstmals die Kosten der einzelnen Spitäler über die Kantonsgrenzen hinweg vergleichen, und auch in Sachen Behandlungsqualität herrscht deutlich mehr Transparenz. Dass es immer mehr Online-Vergleichsportale gibt, auf denen sich Patienten über Fallzahlen und Komplikationen informieren können, ist eine Folge davon. Und dank den Qualitätsindikatoren sollte es in Zukunft auch möglich sein, Spitäler ausfindig zu machen, die systematisch Überbehandlungen praktizieren. Das ist zumindest die Hoffnung des Krankenkassenverbandes Santésuisse.

Kinder und Todkranke benachteiligt

Die Spitalfinanzierung benötigt nach fünf Jahren noch einige Justierungen. So pochen die Universitätsspitäler auf eine bessere Entschädigung für hochkomplexe und seltene Behandlungen.

Laut Michael Jordi von der Gesundheitsdirektorenkonferenz leiden zwei weitere Bereiche unter zu tiefen Tarifen: Die Kindermedizin, die sich weniger gut standardisieren lässt als jene für Erwachsene. Das bringt spezialisierte Kinderspitäler in finanzielle Nöte. Und die Palliativmedizin, die Menschen in den Tod begleitet. «Wenn die Patienten am Ende zu uns verlegt werden, haben sie den für sie vorgesehenen Pauschalbetrag bereits verbraucht», sagte Steffen Eychmüller vom Berner Inselspital gegenüber «10 vor 10». Mit solchen Patienten machen die Spitäler deshalb Verluste.

2018 sollen auch psychiatrische Kliniken schweizweit ein einheitliches Tarifsystem erhalten. Weil Fallpauschalen bei psychischen Erkrankungen, die sehr unterschiedlich verlaufen, offensichtlich ungeeignet sind, basiert der «Tarpsy» auf Tagespauschalen, die mit zunehmender Behandlungsdauer tiefer werden. Zu einem späteren Zeitpunkt wird es auch in der Rehabilitation eine finanzielle Harmonisierung geben.