Interview · Rüdiger Strehl

Selbstbedienung und Tarifflucht im Gesundheitswesen

Fehlenentwicklungen im Gesundheitswesen brauchen mehr als ethische Appelle, sagt der ehemalige Finanzchef des Tübinger Klinikums, Rüdiger Strehl. Er fordert, die Selbstverwaltung zu entmachten, und mehr Lenkung durch die Politik.

16.02.2017

Von Angelika Bachmann

Viele Krankenhäuser stehen unter enormem finanziellen Druck – das wirkt sich auch auf das Personal und die Patientenversorgung aus. Medizinethiker beklagen die „Ökonomisierung des Gesundheitswesens“. In einem Thesenpapier (für das „Deutsche Ärzteblatt“) hält der langjährige Finanzchef des Uni-Klinikums Tübingen, Rüdiger Strehl, dagegen: Nicht die Ökonomisierung sondern gerade unökonomische Strukturen im Gesundheitswesen führen zu den negativen Effekten, die Mitarbeiter an Kliniken aber auch Patienten ausbaden müssen.

SCHWÄBISCHES TAGBLATT: Die Ökonomisierung der Medizin ist derzeit ein großes Thema für Medizin-Ethiker und Ärztevertreter, der Deutsche Ethikrat und auch die Leopoldina, mit ihrem Tübinger Mitglied Prof. Urban Wiesing haben in Thesenpapieren beklagt: Ökonomische Aspekte bestimmen zunehmend den Alltag im Krankenhaus, das müsse sich ändern. Sie nennen das einen „naiven Appell“. Warum?

Rüdiger Strehl: Weil die Medizin-Ethiker weder erklären können, was die Ursachen der Ökonomisierung sind, noch haben sie ein Konzept der Abänderung. Sie wiederholen ständig ihre Grundthese, Wirtschaftlichkeit im Sinne einer vernünftigen Ressourcenverwendung sei auch ethisch vertretbar, aber dann, wenn die Indikationsstellung des Arztes durch ökonomische Erwägungen dominiert würde, dann wird es unethisch. Diese Grenze können sie nicht operational fixieren. Was soll also der Arzt machen, wenn er diese Grenze erreicht sieht? Was raten ihm die Medizin-Ethiker? – Nein, Ökonomisierung der Medizin ist nicht ethisch lösbar. Sie kommt nicht von außen auf die Medizin zu. Sie ist eine selbstproduzierte Folge der Unökonomie im deutschen Gesundheitswesen. Dort müssen sowohl die Erklärungen wie die Korrekturen ansetzen.

Was verstehen Sie unter „Unökonomie im Gesundheitssystem“?

Das ist ziemlich einfach und profan. Sie hat fünf konkrete Ursachen. Erstens achtet die Gesundheitspolitik vorrangig auf die Finanzen der Krankenkassen und den Beitragssatz. Die Finanzen von Krankenhäusern und Ärzten sind ihr nachrangig. Zweitens befinden sich viele Kosten im Gesundheitswesen im Freiflug: Preise für Medikamente, Ärztegehälter, allgemeine Tarifentwicklungen. Drittens werden durch die Politik die Preise von Krankenhäusern und Ärzten budgetiert und gedeckelt, unabhängig von den steigenden Faktorpreisen.

Sie haben schon während Ihrer Zeit als Kaufmännischer Direktor immer wieder betont, dass unter solchen Bedingungen eine Betriebsführung eigentlich unmöglich ist.

Das gilt auch heute noch. Diese so genannte Schere reißt zum Beispiel im Tübinger Klinikum jährlich Millionenlöcher auf, die durch Einsparungen an anderer Stelle oder Mehrleistungen ausgeglichen werden müssen. Der vierte Punkt: Die vom Land zu leistenden Investitionsmittel sind seit Jahren zu niedrig. Eigene Investitionen sind im DRG-System nicht vorgesehen; erfolgen sie gleichwohl, fehlt es eben beim Pflegepersonal oder woanders. Und Fünftens sind über 2000 Krankenhäuser in Deutschland zuviel. Nicht ausgelastete Leerkapazitäten erzwingen Einsparungen im laufenden Betrieb. Keine dieser Ursachen hat ethische Aspekte. Sie deuten vielmehr auf nicht abgestimmte ökonomische Strukturen im deutschen Gesundheitswesen.

Sie kommen doch an vielen Stellen zu den gleichen Schlussfolgerungen wie die Medizin-Ethiker. Auch sie beschreiben eine Ökonomisierung im Gesundheitswesen: „Budgetierung und Controlling gewinnen immens an Bedeutung, ungeachtet einer mitunter fragwürdigen methodischen Qualität.“ In der Schlussfolgerung sind Sie also gar nicht so weit entfernt.

Das würde ich nicht als Schlussfolgerung bezeichnen. Die Ökonomisierung der Medizin wird nicht an den Ursachen behandelt. Deshalb blühen Folgebürokratien auf, zu denen ich auch ein überbordendes Controlling im medizinischen und kaufmännischen Bereich neben anderem aufführen würde. Hierzu zähle ich auch zunehmende innere Konflikte und Symptome eines „organizational burnouts“ in den Krankenhäusern.

In Ihrem Thesenpapier schreiben Sie, Gesundheitspolitiker, Gesetzgeber, Ärzte- und Krankenhaus-Selbstverwaltung haben das System der Krankenversorgung selbst in diesen unschönen, von ökonomischem Druck geprägten Druck versetzt. Wie meinen Sie das?

Diese Unökonomie kommt ja nicht von allein. Nein, sie ist das Resultat einer verfehlten und nachhaltig erfolglosen Gesundheitspolitik. Ich habe Gesundheitsminister aller Parteien erlebt, jeder machte nach zwei Jahren eine neue große Gesundheitsreform, jeder hat nachhaltig kaum etwas bewirkt. Die Gesundheitspolitik ist nach meiner Auffassung das erfolgloseste deutsche Politikfeld. Dazu gehört auch, dass die Strukturen der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen nicht funktionieren. Die Kassen verfolgen als oberste Maxime die Ausgabenminimierung, Krankenhäuser und Ärzte die Ertragsoptimierung. Die Kombination von Finanzfragen und Strukturentscheidungen in der Selbstverwaltung des deutschen Gesundheitswesens gelingt nicht. Im Zweifel ist die finanzielle Selbstbedienung wichtiger als die Strukturentwicklung.

Sie waren Finanzchef des Tübinger Uni-Klinikums, Vorstandsvorsitzender des Verbands der Universitätsklinika Deutschlands und Interims-Chef am Uni-Klinikum Ulm. Das saßen Sie doch an vielen Schaltstellen. Wie groß war da ihr Einfluss?

Meine Vorstandskollegen und ich saßen stets zwischen den Stühlen. Finanzieller Druck kam von oben, der Politik und den Kassen; aber auch von unten aus den Kliniken. Heute ist festzustellen, dass die gesundheitspolitisch bedingte Ökonomisierung der Medizin nachhaltig wirkt und eher schlimmer geworden ist. Über den Berliner Politikbetrieb kann ich wenig Gutes berichten. Manchmal bin ich ganz froh, heute nicht mehr aktiv dabei sein zu müssen.

Sie kritisieren, Kostensteigerungen seien auf dem Rücken des nichtmedizinischen Personals ausgetragen worden, während die ausgehandelten Tarife bei den Ärzten zu Kostensteigerungen von 25 Prozent geführt haben.

Damit meine ich die Privatisierungen von Küche, Reinigung und anderen Dienstleistungsbereichen. Das wird deutschlandweit praktiziert und damit von der Politik bewusst gewollt. Auch wir in Tübingen konnten uns dem nicht entziehen. Das Konzept beruht im Wesentlichen auf Tarifflucht. In der outgesourcten Firma werden zumeist 20 Prozent niedrigere Löhne für die gleiche Arbeit gezahlt. Das nenne ich nicht wirtschaften sondern Preisdumping.

Die Leopoldina sagt, in Deutschland gebe es zu viele kleine, schlecht ausgestattete Krankenhäuser, die den Anforderungen an moderne Medizin nicht gerecht werden. Sehen Sie das auch so?

Diese Behauptung teile ich so nicht. Das Thesenpapier der Leopoldina entspricht nach meiner Auffassung nicht den Qualitätsstandards einer der wissenschaftlichen Analyse und Begründung verpflichteten Politikberatung. Es ist sehr kurz für teilweise gewaltige Aussagen und Thesen. Auch war der Quervergleich mit Dänemark vielleicht nicht sehr glücklich. Nur in der Presse dominierte die modellartige Erwägung, in Deutschland die Zahl der Krankenhäuser von 2000 auf 330 zu reduzieren. Allerdings vertrete auch ich mit anderen Begründungen zweierlei: Erstens kann Deutschland 500 von derzeit 2000 Krankenhäusern in fünf bis acht Jahren schließen, ohne dass die stationäre Versorgung beeinträchtigt wird. In diese Richtung, wenn auch nicht so weit, gehen jüngste Äußerungen unseres neuen Sozialministers für unser Bundesland. Zweitens muss die Krankenhausplanung mit Zulassungen und Untersagungen Vorgaben für die Leistungserbringung, Großgeräteausstattung und Spezialleistungen der Krankenhäuser machen. Es kann nicht sein, dass die Krankenhäuser und Ärzte selbst bestimmen, was sie machen und was nicht.

Schon zu ihrer Zeit als kaufmännischer Direktor haben Sie kritisiert, das System der Regulierungen im Gesundheitswesen sei ausgesprochen komplex, unübersichtlich – und dadurch auch ungerecht. Warum ist das so? Und wie könnte man das ändern?

Eine große Frage, die ich nur schwer kurz beantworten kann. Primär sollte die Selbstverwaltung im Gesundheitswesen radikal entmachtet werden. Sie bekommt keine strukturelle Neuordnung zustande, ohne immer auf die eigenen finanziellen Vor- und Nachteile zu schielen. Zweitens ist Politik stattdessen gefragt. Sie kann sich den erforderlichen medizinischen Sachverstand ohne Schwierigkeiten kooptieren. Drittens sollte die Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern neu überdacht werden. Viertens brauchen wir eine regionale medizinische Versorgungsplanung, die die ambulante, stationäre und frührehabilitativen Angeboten zu integrieren hätte.

Sie beobachten in Krankenhäusern zunehmend „Frustration beim Personal“, eine zynische Grundstimmung und eine Abschottung der Führung vom Tagesgeschäft. Als potenzielle Patientin finde ich das ziemlich beunruhigend.

Ich auch. Deshalb halte ich eine Ursachenbekämpfung der Unökonomie der Ökonomisierung der Medizin für überfällig.

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16.02.2017, 01:00 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 16.02.2017, 01:00 Uhr

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