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Baustellen der Gesundheitspolitik Ende des Reformkomas

Die Milliardenüberschüsse der Kassen verschleiern die Probleme: Vier Jahre lang ist in der Gesundheitspolitik wenig passiert. Die neue Regierung könnte bei der Pflege und in den Kliniken mehr erreichen, als auf den ersten Blick möglich erscheint.
Krankenschwester: Finanzierung der Kliniken muss reformiert werden

Krankenschwester: Finanzierung der Kliniken muss reformiert werden

Foto: Sebastian Widmann/ picture alliance / dpa

Hamburg - 300 Milliarden Euro - so viel Geld wird pro Jahr im deutschen Gesundheitssystem umgesetzt. In der Branche arbeiten mehr Menschen als in der Autoindustrie oder bei Banken. Der Posten des Gesundheitsministers gehört dennoch zu den unbeliebtesten in der Bundesregierung: Eine alternde Bevölkerung, steigende Kosten und mächtige Lobbyisten machen den Job wenig komfortabel.

In den vergangenen vier Jahren freilich profitierten die FDP-Minister Philipp Rösler und Daniel Bahr von einer außerordentlich günstigen Konstellation: Der Boom auf dem Arbeitsmarkt spülte viel Geld ins System. Der Gesundheitsfonds und die Kassen verzeichnen derzeit Überschüsse von 29 Milliarden Euro.

Doch die günstige Finanzlage verschleiert den Blick auf grundlegende Probleme: Die Pflegeversicherung muss dringend reformiert werden, ebenso die Finanzierung von Krankenhäusern und Ärzten. Auch das Nebeneinander von privater und gesetzlicher Krankenversicherung gehört auf den Prüfstand. Ein Überblick über die größten Baustellen in der Gesundheitspolitik und die Positionen der möglichen neuen Koalitionsparteien.

Krankenversicherung

Ein großer Wurf ist hier nicht zu erwarten. Egal ob die Union mit der SPD oder mit den Grünen regiert: Eine Bürgerversicherung wird es nicht geben. Sozialdemokraten wie Grüne wollen die private Krankenversicherung (PKV) abschaffen und eine Bürgerversicherung einführen. Mit der Union ist das aber nicht zu machen. Vorstellbar wäre höchstens ein vorsichtiges Angleichen der Systeme. Also mehr Wettbewerb bei den gesetzlichen Kassen und mehr staatliche Vorgaben für die privaten Gesellschaften.

Auch bei Gesundheitspolitikern von CDU und CSU sorgen die starken Beitragssteigerungen für ältere Privatversicherte für Unruhe. Viele Experten prognostizieren, dass die PKV in ihrer jetzigen Form nicht mehr lange überleben wird. Die Frage ist, ob eine neue Regierung hier einen Konsens finden kann.

Kurzfristig muss eine neue Regierung das Problem der Zusatzbeiträge angehen. Spätestens 2015 dürften die ersten Kassen wieder auf zusätzliches Geld ihrer Versicherten angewiesen sein, erwartet der Gesundheitsökonom Jürgen Wasem. Die Zusatzbeiträge sind aber nur scheinbar ein geeignetes Mittel für mehr Wettbewerb. Tatsächlich verschärfen sie das Problem der Risikoselektion. Darunter versteht man, dass die Kassen immer stärker darauf setzen, junge und gesunde Mitglieder zu gewinnen - und es tunlichst vermeiden, sich um kranke und teure Versicherte zu kümmern.

Krankenhäuser und Arztpraxen

Für keinen Bereich im Gesundheitswesen geben die Kassen mehr aus als für Kliniken: 62 Milliarden Euro waren es 2012, das war mehr als doppelt so viel wie für Ärztehonorare gezahlt wurde. Die Finanzierung muss dringend überarbeitet werden. Die Fallpauschalen üben einen starken Anreiz auf die Krankenhäuser aus, ihre Leistungen immer stärker auszuweiten - also vor allem mehr teure Operationen durchzuführen.

Dazu kommt: Die Bundesländer weigern sich seit Jahren, ihren Anteil an den Investitionen zu zahlen. "Es muss geklärt werden, wie der Einfluss der Länder erhalten bleibt, wenn sie nicht mehr bezahlen", sagt der Gesundheitsökonom und Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbands Rolf Rosenbrock. "Hier könnte eine Große Koalition einen echten Durchbruch schaffen." Ein Vorteil sei, dass eine Regierung aus Union und SPD weniger Widerstand im Bundesrat fürchten müsse.

Bei den Ärzten bedauern viele das Aus für die Liberalen. Diese hätten immer für einen vertrauensvollen Dialog gestanden, sagte etwa Klaus Reinhardt, Vorsitzender des Hartmannbunds. Mit der Abwahl der FDP dürfe der Gedanke von Freiheit und Freiberuflichkeit nicht verlorengehen.

Dem stehen die vielen Gesundheitsökonomen entgegen, die nun fordern, dass Krankenkassen gezielt Verträge mit Arztpraxen und Kliniken abschließen sollten, um so die Kosten zu senken. Die freie Arztwahl wäre dann für viele gesetzlich Versicherte Geschichte.

Beobachter sehen die Zeit gekommen, den gewünschten Wettbewerb im Gesundheitssystem weg von finanziellen Anreizen hin zu strukturellen Ansätzen zu bewegen. Mehr Selektivverträge könnten möglich werden - nicht nur zwischen Krankenkassen und Ärztenetzwerken, sondern auch innerhalb der Krankenhäuser.

Pflege

In der Pflegeversicherung ist eine Reform überfällig. Die alten Pflegestufen sind überholt, das System ist auf körperliche Erkrankungen ausgerichtet. Die Pflegestufe richtet sich vor allem nach dem Zeitaufwand. Die Versorgung von Menschen mit Demenzerkrankungen etwa wird nicht angemessen berücksichtigt. Wissenschaftliche Konzepte für den Umbau liegen seit langem vor, nun muss die Regierung diesen endlich angehen.

Klar ist: Das wird nicht billig. Schätzungen gehen von mehreren Milliarden Euro jährlich aus. Die Überschneidungen zwischen CDU, CSU und SPD sind hier recht groß. Alle drei Parteien wollen mehr Geld ausgeben und sind bereit, den Beitragssatz zu erhöhen. Das bedeutet: Die Pflegeversicherung dürfte teurer werden, laut SPD-Programm könnte der Beitrag um 0,5 Prozentpunkte erhöht werden. Das würde jährlich etwa sechs Milliarden Euro bringen.

Arzneimittel / Medizinprodukte

Für die Pharmahersteller in Deutschland brechen bessere Zeiten an, denn die FPD hatte ihnen unerwartete finanzielle Einbußen beschert - nicht nur durch die Einführung des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes (Amnog) in 2011. Noch unter Gesundheitsminister Daniel Bahr wurden ein Preismoratorium und ein Zwangsrabatt verlängert. Dass diese zum Jahreswechsel beendet werden, gilt nunmehr als sicher.

Das Amnog wird, so umstritten es war, vermutlich erst einmal nicht angefasst. Es hat zwar nicht die großen Einsparungen gebracht, die man erwartete hatte, die Nutzenbewertung innovativer Arzneimittel hat sich dennoch bewährt. Der Gedanke, auf diesem Weg "die Spreu vom Weizen zu trennen", so heißt es, gefällt vielen Christdemokraten - und zwar so gut, dass dieser Prozess auf Medizinprodukte wie Herzklappen ausgeweitet werden könnte.

Fazit: Der kurzfristige Reformstau in der Pflege und bei den Kliniken könnte in einer Großen Koalition schnell beendet werden. Die Nutzenbewertung von Arzneimitteln könnte verbessert und die von Medizinprodukten möglich werden. Anders sieht es bei der generellen Zukunft der Krankenversicherung aus. Hier sind die Vorstellungen von Union und SPD schlicht zu unterschiedlich, als das mit einer baldigen Lösung zu rechnen ist. Das Nebeneinander von Privatpatienten und gesetzlich Versicherten wird in Deutschland weitere vier Jahre Bestand haben.