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Medizin-Talk bei Jauch Die Schnippel-Weltmeister

Deutschland ist Weltmeister: im Operieren. Warum sitzt den Ärzten das Skalpell so locker, warum wird gleichzeitig Pflegepersonal eingespart? Im Medizin-Talk bei Jauch hätte man den Ursachen auf den Grund gehen können - stattdessen nervte ein Politiker als Verteidiger dieses Wahnsinnssystems.
ARD-Talker Jauch: Heroischer Einsatz von Schwestern, Pflegern, Ärzten

ARD-Talker Jauch: Heroischer Einsatz von Schwestern, Pflegern, Ärzten

Foto: Rainer Jensen/ dpa

Man fragt sich, warum eine Sendung wie "Günther Jauch" ab einem gewissen Zeitpunkt eigentlich so nervt. Da reden die Gäste über einen wirklich unhaltbaren Zustand, dass nämlich jedes Jahr mehrere tausend Menschen ohne Not operiert werden, weil die Krankenhäuser das Geld brauchen und die Chefärzte für bestimmte Operationen Belohnungen bekommen. Es sitzt ein gut vorbereiteter Moderator da, der die jüngste OECD-Studie erwähnt, nach der im Schnitt der OECD-Länder bei 100.000 Menschen 177 Herzkatheter eingesetzt werden, in Deutschland aber 624. Wir sind Weltmeister im Operieren - und Weltmeister im Einsparen von Krankenschwestern.

Es sitzt mit der ARD-Journalistin Sonia Mikich auch eine Betroffene da, die eine überflüssige OP am eigenen Leib erlebt hat. Es sitzt ein Narkosearzt da, der sagt, dass die Klinik-Geschäftsführung "die klare Anweisung gibt, mehr zu operieren" und es sitzt der AOK-Chef da, der zugibt, "wir müssen am System etwas ändern".

Aber dann kommt bereits in Minute 22 das verwirrende Element der Sendung in Gestalt von Jens Spahn. Herr Spahn, 32 Jahre alt und gelernter Bankkaufmann, ist als gesundheitspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion in Berlin einer der mächtigsten Gesundheitspolitiker überhaupt und mithin verantwortlich für die Zustände. Viele halten ihn sogar für einflussreicher als den FDP-Minister Daniel Bahr. Und was sagt er?

"Wahnsinnig tragisch"

Er zitiert zunächst eine Umfrage, dass 85 Prozent der Patienten mit ihrer Behandlung zufrieden seien. Ja prima. Aber was sagt uns das? Kann ein Patient wirklich beurteilen, ob eine OP bei ihm notwendig oder überflüssig war? Sonia Mikich schreibt in ihrem gerade erschienenen Buch "Enteignet", dass Schmerzmediziner inzwischen der Ansicht sind, in Deutschland seien neun von zehn Bandscheiben-OPs überflüssig.

Spahn dagegen nennt die Falschbehandlung bei Mikich selbst schlicht "tragisch", und dass sie sich als Folge der OP auch noch eine Bauchfellentzündung zugezogen hat, sei sogar "wahnsinnig tragisch".

Aber was heißt hier "tragisch"? Ein Einzelfall? Shit happens?

Wäre es so, könnte ein Gesundheitspolitiker wie Spahn natürlich nichts dafür. Tatsächlich aber ist es so, dass seit Einführung der DRG-Fallpauschalen vor zehn Jahren in Deutschland 27.000 Pflegestellen gestrichen wurden.

An Chefarzt-Boni "nicht viel geändert"

Tatsächlich gibt es auch einen direkten Zusammenhang zwischen der geringen Zahl der Pflegekräfte und der Häufigkeit von Infektionen im Krankenhaus. Und tatsächlich verzichtet Spahns Regierung seit Jahren darauf, für Standards zu sorgen, wie viele Krankenschwestern überhaupt auf einer Station anwesend sein müssen. All dies soll der freie Markt regeln. Gleichwohl sei er kein "Wettbewerbsfetischist", versichert Spahn.

Was er stattdessen sei, verrät er leider nicht.

Selbst für eine Bemerkung hart am Rande der Lüge ist Spahn sich nicht zu schade. So sagt er tatsächlich: "Wir haben die Chefarzt-Boni im Grunde verboten." Jauch schweigt. Selbst Mikich und der AOK-Chef schweigen. Erst Jauchs eigene Redaktion spielt sehr viel später einen Film ein, der klarstellt, dass sich an den Chefarzt-Boni "nicht viel geändert hat" - außer dass die neuen Verträge jetzt offengelegt werden müssen.

Im Faksimile blendet Jauchs Redaktion sogar eine Zielvereinbarung ein, die dem Chefarzt zum Beispiel einen Bonus von mehr als 10.000 Euro zusichert, wenn er mindestens 50 Kniegelenk-OPs in einem Jahr erreicht.

"Empört euch nicht!"

Man kann Spahn eine gewisse Chuzpe bei seinen Talkshow-Auftritten nicht absprechen. Seine nassforsche und lautstarke Art vermittelt vielleicht sogar den Eindruck, es mit einem kritischen Kopf zu tun zu haben. Aber wenn man seinen Appellen genau zuhört wie bei Jauch ("Bitte nicht grundsätzlich das System in Frage stellen!") oder wenn man seine Gesetzesinitiativen liest, bei denen er die Wünsche der Pharmaindustrie umsetzt, weiß man, dass er einer jener Politiker ist, die an den Missständen im Prinzip nichts ändern wollen.

So gibt es auch keine Zahlen, keine medizinische Evidenz, die diese Talkshow-Routine stören könnten. All die bedenklichen Fakten werden zwar zur Sprache gebracht, dann aber gleich wieder relativiert oder abmoderiert, die Diskussion springt auf Nebenschauplätze wie das Einkommen des selbständigen Narkosearztes, die angeblichen Qualitätsanstrengungen der Krankenkassen oder das Einholen einer zweiten ärztlichen Meinung.

Und nur für den Fall, dass um 22.45 Uhr noch ein Zuschauer beunruhigt gewesen sein sollte angesichts des ursprünglichen Themas "Unnötige OPs für satten Gewinne?", lobte Jauch zum Schluss den heroischen, selbstlosen und tröstenden Einsatz zahlreicher Schwestern, Pfleger und Ärzte. Es ist das Gegenprogramm zu einem Denken, zu dem der jüngst verstorbene Stéphane Hessel ermuntert hat. Die Botschaft bei Jauch lautet: "Empört euch nicht!"