• Hallo,

    derzeit ist ja auch durch die Panorama-Sendung der sogenannte Morbi-RSA in der Diskussion.

    Nachdem ich mich mit dem Thema schon etwas auseinandergesetzt habe hier mal meine zusammengefassten Erkenntnisse mit der Bitte um Kritik und rege Diskussion.

    Paradigmenwechsel:
    Der alte RSA hat zuletzt 16 Mrd. Euro zwischen den Kassen umverteilt.
    Bevorzugt jüngere und gutverdienende Versicherte haben Ihre Kasse zugunsten einer billigeren verlassen. Dies führte dann trotz massiver Umverteilung durch den ‚alten’ RSA zu einer überalterten, hochmorbiden und überdies noch wenig Beitrag zahlenden Versichertenstruktur von teueren Kassen und im Gegenspiel zu lukrativen Billigkassen mit vielen gesunden Besserverdienenden, der Effekt hat sich so selbst verstärkt.

    Schon in Lahnstein 1992 (Beschluss des alten RSA) war eine klare Forderung, dass die Solidarische Umverteilung von jung zu alt, von gut- zu schlechtverdienendem ein zentraler Bestandteil unseres Gesundheitswesens ist und durch Wettbewerb nicht gefährdet werden darf!

    Die Politik wollte nun diese Fehlsteuerung beseitigen und die auch von den Privatkassen bekannte Risikoselektion beenden und ähnlich wie die Niederlande einen echten Morbiditäts-RSA einführen.

    Zielsetzung:
    Verbesserung der Versorgung von kranken Patienten insbesondere chronisch Kranken im Wettbewerb. Eine Kasse, die vorwiegend Gesunde versichert, soll daraus keine finanziellen Vorteile mehr ziehen können. Der schwerkranke Chroniker, der aber dank guter Einstellung und Patientenführung wenig kostet, ist jetzt Ziel der Begierde und die ‚Cash-Cow’.
    Daher wurden die Kassenspitzenverbände unter Federführung der BVA gesetzlich verpflichtet (Ersatzvornahme vom Ministerium, wenn nicht!) einen geeigneten schwer manipulierbaren Morbi-RSA zu schaffen, der genau dies bewerkstelligt.

    Die Wahl fiel auf eines von Lauterbach, Wasem und IGES favorisiertes kommerzielles US-amerikanisches System der RxGroups und IPHCC. Einem additiven System ohne direkte Pauschale sondern ein Grundbetrag und dazu dann diverse Zuschläge. Auch hierfür wird ähnlich wie im DRG-System ein Grouper benötigt.

    Aufbau des Morbi-RSA:
    - Alterszuschlag: Der nur einmalig berechenbare Grundbetrag nach Alter und Geschlecht. Völlig Gesunde bekommen nur diesen Alterszuschlag. Es gibt 34 Gruppen.
    - Einmaliger Zuschlag für Erwerbsminderungs-Rentner ebenfalls nach Altersgruppen und Geschlecht, aber gröbere Staffelung.
    - Ggf. mehrfacher Zuschlag nach RxGroups, hierzu werden 70.000 Medikamente aus dem ambulanten Bereich (Verschreibungsdauer mind. 2 Quartale) in 253 Wirkstoffgruppen verteilt. Für jede der 253 Wirkstoffübergruppen gibt es einen festen Zuschlagsbetrag.
    - Ggf. mehrfacher Zuschlag für Krankenhaus-Diagnosegruppe, Diagnosen aus Krankenhausbehandlungen werden wiederum max. 80 (Max. Anzahl politisch festgelegt!) Diagnosegruppen zugeordnet. Es gibt Hierachien so das manche Kombinationen nicht gemeinsam anrechenbar sind, sondern dann nur die Hierarchisch höchste.
    - Einmaliger Pauschalzuschlag für DMP-Patient.


    Beispiel:
    62 jährige mit Erwerbsminderungsrente, mit Insulinmedikation und 1 stationären Aufenthalt wegen Diabetes mit Komplikation.
    Alter RSA: 2.479 Euro

    Morbi-RSA: Alterszuschlag für 60-64 jährige Frau: 517 Euro
    Zuschlag für Erwerbsminderungsrente 56-64 Jährige Frau: 842 Euro
    Zuschlag für Arzneimittelgruppe 115 (Diabetesmedikament). 2.406 Euro
    Zuschlag für Krankenhausdiagnosegruppe 017: 2.479 Euro
    Gesamt: 5.979 Euro

    Manipulationsmöglichkeiten:
    Laut Auftrag des Gesetzgebers soll der Morbi-RSA nicht anfällig für Manipulationen werden.
    Das gewählte System errechnet die Zuschläge für Medikamente aus den Verordnungen der Niedergelassenen und aus den Diagnosen der Krankenhäuser, beide Bereiche sind den Kassen nicht direkt zugänglich.
    Als gefährdet wird der Medikamentenbereich gesehen, da hier teilweise sehr ähnliche Präparate zum Teil sehr unterschiedliche Zuschläge ergeben. In wie weit dann aber die Ärzte in Ihrem Verschreibungsverhalten kassenselektiv beeinflusst werden können ist bisher völlig unklar. Sollte nämlich das Verschreibungsverhalten für alle Kassen beeinflusst werden, ergibt sich kein Benefit für eine Kasse.

    Folgen und Diskussion:
    Der Morbi-RSA ist das neue Verteilinstrument um die Einahmen des Gesundheitsfonds zu verteilen. Die wirtschaftlichen Folgen sind für einzelne Kassen bisher kaum abzuschätzen. Die daraus resultierende Planungsunsicherheit und die Sicherheit, das Kassen die von dem ‚Alten’ System profitiert haben, sicher nicht mehr zu den Gewinnern gehören, führt zu Ablehnung auf breiter Front, die jetzt auch die Presse erreicht. Hierbei kommt es dann auch zu einer Vermischung der ablehnenden Haltung gegen den Gesundheitsfonds und dem Morbi-RSA. Wobei die eigentliche Zielsetzung implizit auch Teil der Kritik ist, nämlich einen Anreiz zur Versorgungsverbesserung zu geben und die Risikoselektion auszuschalten.

    Dazu wird dann auch die in allen Public-Health-Kreisen, hochpopuläre Prävention angeführt. Schliesslich, so die Kritik, würde das System einen Anreiz liefern, lieber Patienten krank werden zu lassen als Gesundheit zu fördern.
    Wenn man sich dann aber einmal Zahlen zur Wirksamkeit von kassenseitigen Primärpräventionsprogrammen anschaut, so wird sehr schnell klar, dass diese bisher eben nur die ohnehin gesündeste Patientengruppe genützt hat, eben gerade die besserverdienenden Low-Risk-Gruppen mit ohnehin dem gesündesten Lebenswandel, denen man dann auch gerne etwas ‚Wellness’ auch zur Versichertenbindung angedeihen ließ.

    Die Sekundärprävention, also die Verhinderung einer Gravierung einer chronischen Erkrankung wird im neuen System finanziell belohnt.

    Weitere Kritik ist das angebliche Fehlen wichtiger Volkskrankheiten, wie etwa der komplikationslose Diabetes oder die Demenz, hier wird emotional diskutiert und versucht das System zu diskreditieren.

    Nur warum sollten diese Diagnosen in den Morbi-RSA einfliessen, wenn Sie eben nicht die mathematisch nachvollziehbaren Kriterien erfüllen, wenn die Kasse mit einem ansonsten kerngesunden Schwerstdementen eben keine zusätzlichen Kosten hat, warum sollte Sie dafür mehr Geld erhalten?
    Bei aller Kritik wird gerne übersehen, dass das alte System von der Verteilungsgerechtigkeit, dem neuen nicht im Ansatz gewachsen ist. Das neue System ist nämlich ähnlich dem DRG-System auf rein mathematischer und damit nachvollziehbarer Basis entstanden, auch hier wird es im Sinne eines lernenden Systems zu transparenten stetigen Verbesserungen kommen.

    Warum also dieser Widerstand?

    Vielmehr ist es wohl die Angst vor einem Erfolg des Morbi-RSA als zentrales Verteilinstrument, den dann, so meine These, brauchen wir keine gesetzlichen Krankenkassen mit Staatlichen Rechten mehr.

    Gruß

    Thomas Lückert
    Stabsstelle Medizincontrolling
    Unfallkrankenhaus Berlin

    • Offizieller Beitrag

    Hallo

    Zitat


    Original von Lueckert:

    - Ggf. mehrfacher Zuschlag für Krankenhaus-Diagnosegruppe, Diagnosen aus Krankenhausbehandlungen werden wiederum max. 80 (Max. Anzahl politisch festgelegt!) Diagnosegruppen zugeordnet. Es gibt Hierachien so das manche Kombinationen nicht gemeinsam anrechenbar sind, sondern dann nur die Hierarchisch höchste.

    Praktische Ergänzung und Vorschlag zur Begleitforschung: Werden die Kostenträger möglicherweise hinsichtlich dieser 80 Diagnosegruppen ihr Prüfverhalten bei den Krankenhäusern ändern, resp. die Infragestellung dieser z.T. CC-tragenden Morbiditätsdiagnosen künftig einfach \"vergessen\"? Lohnt es sich gar in einigen Konstellationen, die eine oder andere Morbi-Nebendiagnose getriggerte (höhere) Krankenhausrechnung zu begleichen, um über den Umweg des Morbi-RSA Überschüsse zu erzielen? Kommt es womöglich zu einer Abwertung derartiger Triggerdiagnosen im DRG-System? Nur als Gedanke, es handelt sich ja mehrteilig um häufige Diagnosen.

    Gruß
    B. Sommerhäuser

    • Offizieller Beitrag

    Guten Tag,

    Zitat


    Original von Lueckert:
    Warum also dieser Widerstand?

    kurze Antwort:

    1) Kennen Sie jemanden der Ihnen das Verfahren und die Auswirkungen während einer Fahrt im Aufzug erklären kann?

    2) Wie funktioniert der Risikostrukturausgleich?
    http://www.bundesversicherungsamt.de/cln_091/nn_104…niert__RSA.html
    Wo funktionieren komplizierte Verfahren?

    3) Berechnung: alles sehr übersichtlich….
    http://www.bundesversicherungsamt.de/cln_091/nn_1046668/DE/Risikostrukturausgleich/Erl_C3_A4uterungen__Berechnungsvordrucke,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/Erläuterungen_Berechnungsvordrucke.pdf>

    4) Lesen Sie Stellungnahmen der Krankenkassen, insbesondere die Stellungnahme der AOK ist lesenswert.
    S.12
    „Fazit: Aus dem Ergebnisteil des BIPS-Gutachtens zeigen sich deutliche Hinweise auf relevante Über-, Unter- und Fehlkodierungen im ambulanten Sektor.

    Diese Kodierprobleme sind derart gravierend, dass von ihnen ein spürbarer Einfluss auf die Identifizierung der Versicherten im BVA-Klassifikationsmodell zu erwarten ist.“
    http://www.bundesversicherungsamt.de/cln_091/nn_104…nahmen_SpiK.zip

    5) Zusammenhang mit der elektronischen Gesundheitskarte
    siehe auch:
    „ Mit dem Morbi-RSA und den Datensätzen aus den elektronischen Rezepten wird es möglich, jeden Bürger nach Krankheitsanfälligkeit einzustufen.
    http://www.heise.de/tp/r4/artikel/27/27614/1.html


    Fazit:

    Zitat


    Lohnt es sich gar in einigen Konstellationen, die eine oder andere Morbi-Nebendiagnose getriggerte (höhere) Krankenhausrechnung zu begleichen, um über den Umweg des Morbi-RSA Überschüsse zu erzielen?


    1) “schwere“ Zeiten für Gutachter?:
    DRG-System: „downcoding“ durch MDK Gutachter
    Morbi-RSA: „Upcoding“ ?, die Bezahlung ist an die Morbidität gekoppelt

    2) Ein (teures) Arbeitsbeschaffungsprogramm für Sofas, Softwareentwickler, Juristen und Mediziner (die der Patientenversorgung entzogen werden).

    3) Ein bürokratisches Monster?
    Ein Beitrag zur Wertschöpfung?


    Gruß

    Eberhard Rembs

    • Offizieller Beitrag

    Hallo Eberhard,

    vielen Dank! Ich lese noch... Zu den Punkten 1, 2 und 3 nach dem Fazit muss ich zustimmen. Ich bin geradezu konsterniert, dass in der Morbi-RSA-Parallelwelt ein Grendelartiges-Bürokratiemonster entsteht, das - unter Aufwandsgesichtspunkten - wohl einem zweiten DRG-System entspricht - Das ist wohl Bürokratieabbau unter Ulla Schmidt... Hinsichtlich deiner Anmerkung zum Wertschöpfungsbeitrag bin ich allerdings recht entspannt - Das Monster wird Heerscharen von Beratern verschlingen und auf diesem Umweg zur Wertschöpfung beitragen. Eigentlich ist Geldverdienen im Gesundheitswesen ganz leicht - allgemeingültiger Leitsatz: Mach, was Frau Schmidt will und es wird dein Schade nicht sein.

    Tsstss
    Schönes Wochenende
    sendet dir
    Burkhard

    • Offizieller Beitrag

    Guten Abend,

    Nachtrag:


    „Es gibt nur drei oder vier Menschen, die den Risikostrukturausgleich
    (RSA) verstehen, ich gehöre nicht dazu“, hat Horst Seehofer einmal gesagt.

    Ein Sachkundiger soll diese Seehofersche Erkenntnis ergänzt
    haben:
    „Und drei davon sind in dauerpsychiatrischer Behandlung.“


    GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 1+2/07 – März 2007
    Seite 3


    Gruß

    Eberhard Rembs

  • Schönen guten Tag Herr Sommerhäuser,

    Zitat


    Original von Admin:
    Ich bin geradezu konsterniert, dass in der Morbi-RSA-Parallelwelt ein Grendelartiges-Bürokratiemonster entsteht, das - unter Aufwandsgesichtspunkten - wohl einem zweiten DRG-System entspricht

    Warum konsterniert? Seien wir doch froh. Für die Einen schafft es möglicherweise etwas Entspannung, weil die Kontrahenten (=Krankenkassen) dadurch abgelenkt werden. Für die Anderen, die des Diskutierens mit dem MDK müde sind, ist es vielleicht ein vielversprechendes Betätigungsfeld. Wie Sie schon sagten:

    Zitat

    Mach, was Frau Schmidt will und es wird dein Schade nicht sein.


    Ich wünsche noch einen schönen Tag,

    • Offizieller Beitrag

    Guten Morgen allerseits,

    dies fiel mir gerade heute in die Hände:

    Höhere Qualität bei der Dokumentation der Diagnosen erforderlich - Hohe Zahl an unvollständig dokumentierten Diagnosen
    http://213.131.251.36/www.aok.de/bun…ndex_15835.html
    (AOK-Bundesverband).

    Mich wundert und erschrickt gar nichts mehr.

    Gute Nacht
    B. Sommerhäuser

  • Guten Morgen zurück,

    Zitat


    Original von Admin:
    Höhere Qualität bei der Dokumentation der Diagnosen erforderlich - Hohe Zahl an unvollständig dokumentierten Diagnosen
    http://213.131.251.36/www.aok.de/bun…ndex_15835.html
    (AOK-Bundesverband).

    Mich wundert und erschrickt gar nichts mehr.

    Dem ist nichts hinzuzufügen, außer vielleicht ...
    ... Money is the rule of all evil (Bronski Beat)

    Grüße

    Andreas Christaras

    --------------------------------------------------------------------------------
    Dr. med. A. Christaras
    FA Kinder- & Jugendmedizin

  • Schönen guten Tag allerseits und insbesondere Herr Sommerhäuser,

    ...sag ich doch...
    http://www.medco-hessen.de/files/morbi-RSA.pdf

    Die Frage ist, was machen wir daraus. Plötzlich gibt es eine Interessensüberschneidung zwischen Krankenkassen und Krankenhäusern hinsichtlich des \"Rightcoding\" ... und wir im Krankenhaus haben etliche Jahre Erfahrung darin. Wenn wir also beide Interesse daran haben, dass die Erkrankungen, die ein Patient hat, auch verschlüsselt werden, warum machen wir uns dann gegenseitig das Leben z. B. durch die MDK-Prüfungen schwer?

    Da steckt doch für beide eine Chance drin, man muss nur miteinander reden, wozu ich ausdrücklich gerne bereit bin!

    Ich wünsche noch einen schönen Tag,

  • Schönen guten Tag Herr Sommerhäuser,

    Zitat


    Original von Admin:
    Darf ich den Foliensatz zum Download bereitstellen?

    ..dürfen sie gerne. Ich habe den Vortrag gerade noch einmal aktualisiert und ein Rechenbeispiel zur Veranschaulichung eingefügt:

    Ich wünsche noch einen schönen Tag,