Kodierfähigkeit ANV bei Abfall des Kreatinin-Wertes - LSG-Urteil L 16 KR 592/18 (18.08.2020)

  • Wertes Forum,

    durch Zufall bin ich gestern auf das oben genannte LSG-Urteil vom 18.08.2020 gestoßen.

    Nach meinem bisherigen Verständnis war die Logik/Kodierfähigkeit des N17.- wie folgt:

    Ein Patient wird mit einem erhöhten Krea-Wert von 2,0 mg/dl in die Klinik aufgenommen. Es liegt weder eine Exsikkose noch eine chronische Niereninsuffizienz vor. Mittels Infusionstherapie wird der Krea-Wert auf 1,2 mg/dl gesenkt. Über die Formulierung "Anstieg des Serumkreatinins von einem gemessenen Ausgangswert oder anzunehmenden Grundwert des Patienten um mindestens 50 % innerhalb der vorangehenden 7 Tage" im Definitionstext des N17 war für mich davon auszugehen, dass der Patient vor dem Krankenhausaufenthalt einen normwertigen Krea-Wert von 1,2 mg/dl hatte. Somit hatte der Patient vor dem Krankenhausaufenthalt einen anzunehmenden Grundwert von 1,2 mg/dl und entsprechend einen Anstieg um 66,6 % auf den zur Aufnahme führenden erhöhten Wert von 2,0 mg/dl. Demnach war für mich hier ein N17.91 kodierbar.

    Die Formulierungen im Definitionstext sind von der KDIGO-Leitlinie von 2012 in meinen Augen etwas unsauber übersetzt worden (siehe S. 22 des verlinkten PDF):

    "2.1.1. AKI is defined as any of the following (Not Graded):

    - Increase in SCr by ≥ 0.3 mg/dl (≥26.5lmol/l)within 48 hours; or
    - Increase in SCr to ≥1.5 times baseline, which is known or presumed to have occurred within the prior 7 days; or

    - Urine volume <0.5 ml/kg/h for 6 hours."

    Die Übersetzung im N17.- macht aus dem einzelnen Begriff "baseline" die zwei Begriffe "gemessener Ausgangswert" und "anzunehmender Grundwert". Auf den ersten Blick erscheint das nicht weiter gravierend, auf den zweiten Blick bei strenger Auslegung nach Wortlaut hat dies allerdings Konsequenzen für die Stadieneinteilung an der 5. Stelle des N17.-:

    Hier wird in der Stadieneinteilung 1-3 nur noch der Ausgangswert nicht aber der anzunehmende Grundwert benannt (die KDIGO-Leitlinie hatte ja von Anfang an nur den einen Begriff "baseline, which is known or presumed" verwendet und verwendet diesen logischerweise auch weiter in der Stadieneinteilung in Tabelle 2, siehe ebenso S. 22 der oben verlinkten Leitlinie):

    "Stadium 1

    Anstieg des Serum-Kreatinins um mindestens 50 % bis unter 100 % gegenüber dem Ausgangswert innerhalb von 7 Tagen"

    Wenn man dann, wie vom Gericht gefordert, den ICD streng nach Wortlaut und systematisch angeht, müsste man wie folgt vorgehen:

    Feststellung der ersten drei Stellen des ICD (N17):

    Mindesten eins der im Definitionstext behandelten Kriterien liegt vor:

    • Anstieg des Serum-Kreatinins über einen gemessenen Ausgangswert um mindestens 0,3 mg/dl innerhalb von 48 Stunden
    • Anstieg des Serum-Kreatinins von einem gemessenen Ausgangswert oder anzunehmenden Grundwert des Patienten um mindestens 50 % innerhalb der vorangehenden 7 Tage
    • Abfall der Urinausscheidung auf weniger als 0,5 ml/kg/h über mindestens 6 Stunden

    Im oben genannten Beispiel wäre (zumindest nach meinem bisherigen Verständnis) der zweite Punkt mit dem anzunehmenden Grundwert erfüllt. Also sind die ersten drei Stellen des ICDs N17 belegt.

    Die vierte Stelle:

    Bei Vorliegen eines histologischen Befundes ist die vierte Stelle mit "-.0-", "-.1-", "-.2-" oder "-.8-" zu kodieren. Ohne Histologie entsprechend "-.9-".

    Die fünfte Stelle:

    Hier werden die Stadien 1-3 definiert. Wie bereits beschrieben ist hieran problematisch, dass in den Stadien 1-3 nun nur noch vom Ausgangswert, nicht aber vom anzunehmenden Grundwert die Rede ist. Somit könnte ich im obigen Beispiel hier keinen Anstieg von mindestens 50 % belegen, da ich diesen nur mit einem anzunehmenden Grundwert erreiche. Da in der Stadieneinteilung jedoch der anzunehmende Grundwert nicht benannt wird, kann ich hier streng genommen kein Stadium 1 kodieren, sondern müsste an dieser Stelle N17.99 kodieren.

    Das LSG macht es sich im genannten Urteil hingegen noch einfacher und umgeht die Diskussion um den anzunehmenden Grundwert, indem es sich daran festhält, dass im Wortlaut N17.- nur vom Anstieg die Rede ist:

    "Wegen der engen Bindung des Gerichts an den Wortlaut bei der Auslegung, ist es dem Senat
    auch verwehrt, die Leistungslegende unter Zugrundelegung des von der Klägerin angeführten
    Umkehrschluss als erfüllt zu beurteilen. Der Wortlaut spricht von einem „Anstieg", also einer
    Erhöhung. Wie oben bereits ausgeführt, lässt der Zweck der Vergütungsregelung, der in einer
    routinemäßigen Abwicklung in einer Vielzahl von Behandlungsfällen liegt, keinen Spielraum für
    weitere Bewertungen oder Abwägungen. Auch Bewertungen und Bewertungsrelationen müssen
    außer Betracht bleiben.

    Dabei schließt der Senat nicht grundsätzlich aus, dass unter nephrologischer Betrachtung ein
    Umkehrschluss aus dem dokumentierten Abfallen des Kreatinin-Serums einen Rückschluss auf
    ein akutes Nierenversagen erlauben könnte. Allerdings bedürfte eine solche Annahme, um
    kodierfähig zu werden, einer korrigierenden Nachsteuerung durch die Vertragsparteien für die
    Zukunft."

    Mit dieser LSG-Lesart fällt mir momentan kein kodierbares Szenario ein, indem ein Patient mit ANV ins Krankenhaus kommt und erfolgreich therapiert wird. Es sei denn man hat zufällig einen Krea-Wert vorliegen, der in den vorangegangenen sieben Tagen gemessen worden ist.

    Es wären dann nur die ANV kodierbar, die im Krankenhaus entstehen.

    Wie so oft fällt es mir schwer zu akzeptieren, dass man in diesem Kodier-/Abrechnungssystem oftmals besser fährt, wenn man jeglichen medizinischen Sachverstand außer Acht lässt.

    Viele Grüße,

    FBR


  • Hallo,

    gibts doch nicht! das war doch alles safe...

    woher denn Werte haben, wenn Patienten zu Hauf aus der Häuslichkiet vom RD abgeholt/eingeladen werden, v.a. am Wochenende; Und in Zeiten der von oben beschworenen Datenschutzmanie auch einfache Hausarztvorbefundanforderungen zu einem schwierigen Akt geworden sind. Und wenn es gar keinen Hausarzt gäbe? Das Urteil kann doch angefochten werden! Nur weil eventuell kein Vorwert vorliegt("nie beim Arzt gewesen") hat/hatte der Patient immer noch ein akutes Niereversagen wenn von GFR30 auf wieder normal therapiert wird und das kann man kodieren.

    Wo kommt denn dieser Sachverstand her?


    MfG

    rokka

  • Hallo,

    im Prinzip stimme ich zu, aber in diesem Fall kann man doch nicht sagen, dass keine Exsikkose vorlag (oder bin ich bei einem anderen Fall).

    Aufnahme mit seit 3 Wochen bestehender Diarrhoe und Übelkeit (!) bei Gastroenteritis.

    Gruß

    B.W.

  • das steht aber nur hier...

    ....in der Beschreibung des Urteils 3 Wochen Diarrhoe und Übelkeit; da muss man doch von einer Exsikkose ausgehen; es steht auch nirgends, dass keine vorlag.

    auch wenn die Argumentation sehr eigenwillig ist,.....

  • Hallo FBR,

    in der  KDIGO-Leitlinie von 2012 findet sich die Erläuterung zur Rückrechnung vom Abfall des Serumkreatininwertes auf pdf-Seite 31, Tabelle 7.

    Im Ergebnis geht das Urteil leider wieder völlig an der Medizin vorbei. Ein ANV bei Aufnahme wäre regelhaft allenfalls noch durch die Oligo-/Anurie belegbar.

    Da bedarf es einer Klarstellung des BfArM.

    Viele Grüße

    M2

  • Guten Morgen,

    kodierer2905 , rokka Ich habe in meinem Beitrag ein anderes, vereinfachtes Beispiel verwendet, weil ich es so simpel wie möglich halten wollte. Die Definition des N17.- war im Jahr 2015 (aus diesem Jahr ist der strittige Fall vor dem LSG) auch noch etwas kürzer.

    Der Sachverstand ist laut Gericht nicht notwendig, anbei ein Zitat aus dem angeführten Urteil: "Zur Klärung der Kodierfähigkeit eines akuten Nierenversagens als Nebendiagnose N 17 .9 bei der Versicherten bedurfte es nach den vorstehenden Ausführungen auch keines medizinischen Sachverständigen, da es sich um eine reine Rechtfrage handelt, die vom Gericht zu beurteilen ist."

    medman2 Vielen Dank für den Hinweis. Ich war mir sicher, dass ich diese Tabelle schon mal gelesen hatte.

    Wenn allerdings vor Gericht der N17 auseinander genommen wird und dann bei Definition der 5. Stelle moniert werden könnte, dass hier nur noch vom Anstieg von einem (gemessenen) Ausgangswert und nicht auch von einem anzunehmenden Grundwert die Rede ist, dann hilft einem m.E. auch die Tabelle 7 der KDIGO nicht.

    Das eigentliche Problem ist m.E. diese unsaubere Übersetzung mit der Aufspaltung in zwei Begriffe, die an der 5.Stelle dann nicht aufgenommen wird. Bei der Auslegung streng nach Wortlaut ist das dann entsprechend fatal für die Kodierbarkeit des N17.

    Viele Grüße,

    FBR

    Einmal editiert, zuletzt von FBR (19. März 2021 um 09:50)

  • Hallo,

    bzgl. der medizinischen Einschätzung sehe ich das wie Kodierer2905.

    Was insgesamt gemeint ist, dürfte jedem Mediziner klar sein. Verschriftlicht findet sich das in o.g. Tabelle.

    Die von Ihnen geforderte "saubere Übersetzung" würde auch nicht weiterhelfen:

    "Nach den KDIGO-Leitlinien (kidney Disease: lrnproving Global Outcomes, abgedruckt in Kidney International Supplements (2012 2, 8-12) liegt akutes Nierenversagen vor, wenn mindestens eines der folgenden Kriterien erfüllt ist:

    • Anstieg des Serumkreatinins über einen gemessenen Ausgangswert um mindestens 0,3 mg/dl innerhalb von 48 Stunden
    • Anstieg des Serumkreatinins von einem gemessenen Ausgangswert oder anzunehmenden Grundwert des Patienten um mindestens 50 % innerhalb der vorangehenden 7 Tage
    • Abfall der Urinausscheidung auf weniger als 0,5 ml/kg/h über mindestens 6 Stunden

    Keines dieser Kriterien ist erfüllt, da es vorliegend an einem gemessenen Ausgangswert fehlt, der als Rechengröße in die Berechnung der Serumerhöhung einzustellen ist."

    An dieser Stelle stellt das LSG ausschließlich auf den "gemessenen Ausgangswert" ab, obgleich auch der "anzunehmende Grundwert" als Referenz benannt wird.

    Im Weiteren zieht das LSG auch den "angenommenen Ausgangswert" in Betracht und meint, dies könne allenfalls der Referenzwert bei Gesunden sein. Es verläßt dabei die wortgenaue Betrachtung und verkennt die dem "anzunehmenden Grundwert" ("baseline, which is ... presumed") zugrundeliegende Ratio, nämlich Tabelle 7.

    (Hervorhebungen durch Verfasser)

    Dem LSG ist nach der Urteilsbegründung ("Dabei schließt der Senat nicht grundsätzlich aus, dass unter nephrologischer Betrachtung ein Umkehrschluss aus dem dokumentierten Abfallen des Kreatinin-Serums einen Rückschluss auf ein akutes Nierenversagen erlauben könnte.") offenbar bewußt, oder sagen wir besser, es hat eine Ahnung, dass das Urteil zu einer Divergenz zwischen dem, was medizinisch gemeint ist, und der Auslegung durch das Gericht führt.

    Zusammenfassend helfen nur Formulierungen, die auch für Laien ohne Verständnis medizinischer Zusammenhänge unmissverständlich sind. Ein nahezu aussichtsloses Unterfangen. Es geht halt nicht ohne das Verständnis von Zusammenhängen.

    Viele Grüße

    M2

  • Guten Tag,

    die endgültige Version 2022 des ICD-10-GM enthält nun auch an der fünften Stelle die Formulierung

    "Anstieg des Serum-Kreatinins um mindestens x % bis unter y % gegenüber dem gemessenen Ausgangswert oder anzunehmenden Grundwert innerhalb von 7 Tagen".

    Damit ist das o.g. Urteil zumindest für Fälle ab 2022 nicht mehr anwendbar.

    Viele Grüße

    FBR