Lieber Herr Kollege Luers,
Ihren Wunschtraum kann ich gut verstehen.
Als die Pflichtdokumentation 1986 in der "alten" BRD begann (in der ehemaligen DDR noch viel früher), sollten die Ärzte vor Ort nur die Hauptdiagnose festlegen und diese dreistellig (?!) nach der ICD-9 codieren. Dies überprüften wir an 5000 Arztbriefen mit dem Ergebnis, daß die Fehlerrate so hoch war, daß wir es vorzogen, in der Dokumentation, diese an Hand der Arztbriefe selbst vorzunehmen.
Damals hatten wir jedoch auch bis zu einem halben Jahr Zeit, bis die Berichte fertig sein mußten. So konnten wir in offenen Fragen oder Widersprüchen in den Arztbriefen auch das Krankenblatt zu Rate ziehen. Die daraus entstandenen Datensammlungen - es wurde damals auch noch viel mehr Klinikeigenes erfasst - konnten durchaus wissenschaftlichen Fragestellungen Stand halten (nachzulesen in: Th. Winter; Diagnose- und Therapieschlüssel in der Orthopädie und Traumatologie... Bücherei des Orthopäden Band 65 Enke Verlag 1996).
Nun hat die Gesundheitsgesetzgebung selbst dafür gesorgt, daß die Möglichkeiten einer guten - bzw. überdurchschnittlichen - Dokumentation infolge nicht umzusetzender Zeitvorstellungen und der Vielfalt der zu dokumentierenden Kriterien untergraben wurde. Die käuflichen dv-Programme, die entgegen der jährlich von vielen auf Kongressen wiederholten Prüfberichten zu der Codierqualität nach wie vor die Codierung vor Ort zur Pflicht machen (vgl. s. oben), tun ein übriges, Häusern, die eine gute Dokumentation besaßen, das Leben schwer zu machen, diese beizubehalten.
In der Hoffnung, daß es eines Tages wieder mehr Möglichkeiten geben wird, dort anzuknüpfen, wo die Gesetzgebung und die käuflichen dv-Programme einen Schnitt machten, möchte ich es für heute bewenden lassen.
Mit freundlichen Grüßen
winterth