Sehr geehrter Herr Selter,
vielen Dank für die ausführliche (wenn auch nicht vollständige) Antwort.
Meine Fragen sollen Sie bitte nicht so verstehen, dass ich dem DRG-System ablehnend gegenüber stehen würde. Ich bin nur sehr verwundert, wie schwer es doch ist, eine an sich so simple Idee in die Praxis umzusetzen. Irgendwie haben ja sehr viele Leute geradezu mit Begeisterung reagiert, als die DRGs angekündigt wurden, aber gegenwärtig herrscht offenbar eher Ratlosigkeit vor. Meine Frage, welche Vorteile Sie persönlich im DRG-System sehen, haben Sie in Ihrem Beitrag leider nicht beantwortet.
Ich bin der Meinung, wir sollten uns als Ärzte gar nicht so sehr verunsichern lassen, sondern lieber eine gute Arbeit machen und zusehen, dass wir geeignete Kataloge an die Hand bekommen, um unsere Leistungen angemessen und vor allen Dingen eindeutig dokumentieren zu können. Alles andere sollte automatisch ablaufen. Das kann es aber nur, wenn die zugrunde gelegten Daten über jeden Zweifel hinsichtlich ihrer Qualität, also ihres Informationsgehaltes erhaben sind. Hier liegt die Verantwortung der Ärzte und hierauf lege ich bei meinen Schulungen auch den größten Wert. Solange die Rohdaten nicht eindeutig sind, kann man auch jede Auswertung anzweifeln und damit wird die Datenerhebung als Ganzes unbrauchbar und damit ist jede Motivation in Frage gestellt.
Ich denke auch, dass Sie genau wie ich spüren, dass da etwas mit dem OPS-Schlüssel noch nicht stimmt. Trotzdem meine ich, dass ich meinen Standpunkt noch etwas genauer erklären sollte. Wenn Sie sich grundsätzlich entschieden haben, medizinische Daten aller Art (hier meine ich jetzt die geamte Krankengeschichte) in einer zeitgemässen Form zu erfassen, werden Sie einen Computer zu Hilfe nehmen. Davon gehe ich für meine Person jedenfalls aus. Sobald Sie eine Struktur in die Daten bringen wollen, werden Sie etwas anderes tun, als Papierdokumente nur einscannen oder Volltext speichern. Sie wollen z. B. ihre Dokumente inhaltlich miteinander vergleichen. Sehr hilfreich sind hier Schlagwörter. Man kann z. B. eine riesige Menge Ja/Nein-Abfragen machen, aber üblicherweise versucht man Listen zu verwenden, die selbst einer gewissen Systematik folgen, um eine Vielzahl von Ausprägungen recherchierbar zu machen. In unserem Fall Diagnosen und Prozeduren. Ich mache das primär nicht, um abzurechnen, sondern um medizinische Daten in eine verarbeitbare Form zu bringen. Ich mache das, um mit minimalem Aufwand meine Dokumentation nach Informationen durchsuchen zu können, um letztlich dann, wenn ich einen neuen Fall habe, sozusagen auf Knopfdruck eine Liste von früheren Fällen aufrufen zu können, die in möglichst vielen Merkmalen mit dem aktuellen Fall übereinstimmen und die ich dann mit ihren Volltextdokumenten ansehe.
Und ich habe mir gedacht, dass dafür ein „guter“ Schlüssel nötig ist, also ein eindeutiger Schlüssel, aber auch ein vollständiger Schlüssel. Für Eindeutigkeit sorgt eine exakte, möglicherweise mehrzeilige Definition (da, wo es nötig ist, hier muß aber oftmals das KIS erst geändert werden, um diese Definitionen auch anzeigen zu können) und die Schaffung einer Referenz, die für alle beteiligten Ärzte immer verfügbar ist. Das könnte wie bei den Telefonbüchern durch jährlichen Austausch bewerkstelligt werden, sinnvoller wäre sicherlich die Verbreitung über EDV-Programme bzw. die Bereitstellung im Internet, so wie es das DIMDI seit geraumer Zeit tut. Damit das ganze anwenderbezogen funktioniert, könnte eine ziffernbezogene Kommentierung nach dem Beispiel einer Newsgroup zur Anwendung kommen, so dass beispielsweise jedes Jahr an einem Stichtag die Fachgesellschaften einen Überblick über „Wünsche und Anträge“ der Anwenderschaft hätte und damit die nächste Version amtlich machen könnte. Vollständigkeit kann ich zwar nie ganz erreichen, aber ich kann den Schlüssel bei Bedarf erweitern, wobei es selbstverständlich ist, auch für neue Schlüssel die vorgegebene Systematik der Begriffe zu beachten, um Schlüssel wiederzufinden. Das ist ja auch alles nicht neu. Wie oft genug bemängelt, hing die mögliche Verschlüsselungstiefe aber bisher davon ab, wie weit die jeweilige Fachgesellschaft sich engagiert hat. Wenn sie es nicht tat, haben sich einzelne Ärzte/Krankenhäuser mit individuellen Erweiterungen aus der Affäre gezogen, wobei vergleichende Auswertungen mit anderen Ärzten/krankenhäusern dann aber fast nicht mehr möglich sind.
Bedenklicher als die Tatsache, dass bestimmte Schlüssel noch differenzierter werden müssten, halte ich die Tatsache, dass ganze Kapitel des ICPM für den OPS nicht zur Verfügung stehen. Hier wäre auf einen Schlag eine sehr sinnvolle Erweiterung möglich, ebenso mit den ggf. so im OPS noch nicht berücksichtigten Prozeduren, für die es EBM- und/oder GOÄ-Ziffern gibt.
Das Kriterium für die Aufnahme- oder Nichtaufnahme eines Tatbestandes in den Schlüssel kann nur der Bezug zur ärztlichen Tätigkeit sein. Eine Grenze für die Verschlüsselungstiefe vorher festzulegen, ist nach meiner Ansicht sehr problematisch und sogar falsch. Auch die Frage, wie viele Anwender nun diesen Schlüssel benötigen ist nebensächlich, wer ihn nicht benötigt, muss ihn ja nicht benutzen (vorausgesetzt, man erspart sich so unsinnige Kodierregeln, dass jeder jeden möglichen Schlüssel benutzen muß!). Das soll nicht heißen, dass es beliebig wäre, was der Einzelne verschlüsselt.
Die Regel sollte lauten: Was geeignet ist, die DRG zu begründen, d a r f verschlüsselt werden, wenn es den Tatsachen entspricht.
Daraus folgt zwingend, dass ich den Grouperalgorithmus jedem Arzt zugänglich machen muss, damit er selber sieht, ob der in Frage stehende Schlüssel abrechnungsrelevant ist. Abrechnungsrelevant sind doch je nach DRG andere Diagnosen und Prozeduren. Auch die CCL-Listen müssen offen liegen. Alles das muß wie der Schlüssel regelmäßig aktualisiert werden. Ein neuer Schlüssel führt aber nicht zwangsläufig zu einem anderen Grouperalgorithmus. In den meisten Fällen dient er nur der Klarheit und Strukturierung der medizinischen Dokumentation. Auf statistischem Wege ließe sich natürlich prüfen, ob zu einer gegebenen DRG bestimmte weitere Informationen auffällig sind, z. B. Diagnosen oder Prozeduren, die im Rahmen der Qualitätssicherung erfasst werden mussten. Diese sollten nach meinem Dafürhalten ebenso verschlüsselt und dem DRG-Institut zugeschickt werden und würden damit eine gesonderte Datenerfassung im Prinzip erübrigen (die Auswertungen würden etwas anders aufgebaut werden als derzeit für § 137).
Für die Verschlüsselung von Diagnosen und Prozeduren können ausser der Erlösrelevanz eine Reihe von Gründen sprechen: Kostenrelevanz (was nicht identisch mit Erlösrelevanz ist), Qualitätssicherungsvorschriften, klinische Studien, Behandlungspfade (Richtlinien/Leitlinien), Ausbildungskataloge. Warum soll hier jedesmal ein anderes System verwendet werden? Es macht doch viel eher Sinn, eine einheitliche Sprache zu sprechen, nämlich die der Mediziner.
Wenn man nun den Ärzten noch die Möglichkeit gibt, mit den von Ihnen selbst erfassten Daten auch zu arbeiten, d. h. Ergebnisse zu sehen, wenn es möglich wird, einen besseren Informationsfluß, eine bessere Verfügbarkeit der Daten zu gewährleisten, läßt sich auch die Motivation verbessern, ich denke sogar, dass dann eine Verbesserung der Dokumentation erstens überhaupt möglich und zweitens sogar von den Ärzten selbst gewollt wird.
Vielleicht habe ich ihnen hiermit nur Selbstverständlichkeiten erzählt, aber falls es sich um Selbstverständlichkeiten handeln sollte, sollte man sie auch in die Praxis, d. h. in die Software umsetzen.
Wir müssen nicht unbedingt der gleichen Meinung sein, aber vielleicht stimmen Sie mir in den genannten Punkten zu.
Mit freundlichen Grüssen
Bernhard Scholz