Medikamente statt Gespräche

Fallpauschalen sollen die Psychiatrie effizienter machen. Doch die Ärzteschaft schlägt Alarm. Statt Einsparungen bringe das neue System mehr Bürokratie. Und es würden gefährliche Fehlanreize gesetzt.

Jan Hudec
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Ein Zimmer in der Klinik Schlosstal: Wie viel darf es kosten, eine psychische Krankheit zu behandeln? (Bild: Andreas Bodmer / NZZ)

Ein Zimmer in der Klinik Schlosstal: Wie viel darf es kosten, eine psychische Krankheit zu behandeln? (Bild: Andreas Bodmer / NZZ)

Geld sparen: So lautet heute die Losung im Gesundheitswesen. Das ist angesichts rasant steigender Kosten vernünftig. Wie das gehen soll, ist jedoch umstritten. Seit 2012 soll in Spitälern das Fallpauschalen-Modell dafür sorgen, dass möglichst effizient gearbeitet wird. Behandlungen werden zunehmend vom stationären in den ambulanten Bereich verlagert. Zwar sind die Einsparungen damit noch nicht überwältigend, wie eine Studie der Universität Basel zeigte. Die Forscher rechnen aber zumindest längerfristig damit, dass die Kosten pro Jahr um eine Milliarde Franken sinken werden.

Keine Zeit mehr für Patienten

Fallpauschalen sollen künftig auch in der stationären Psychiatrie gelten (siehe Kasten), so sieht es das Krankenversicherungsgesetz vor. Gegen das neue Modell mit dem niedlichen Namen «Tarpsy» (Tarifsystem Psychiatrie) wird nun aber Widerstand laut. Einer, der auch öffentlich sagt, was andere nur hinter vorgehaltener Hand äussern, ist der Klinikdirektor des Sanatoriums Kilchberg, Peter Hösly: «Mit dem Fallpauschalen-Modell lässt sich in der Psychiatrie kein Geld sparen.»

Der administrative Aufwand würde ohne einen Nutzen massiv zunehmen, ist Hösly überzeugt, und er warnt vor diversen Risiken: Es bestehe die Gefahr, dass Patienten unter dem anhaltenden Druck einer schnellen Entlassung vermehrt mit Medikamenten statt mit zeitaufwendigen Gesprächen therapiert würden. Dass falsche Diagnosen gestellt würden, weil für diese eine höhere Vergütung locke, und dass gute Ärzte zunehmend mit der komplizierten Codierung von Krankheiten beschäftigt wären, statt ihre Zeit den Patienten widmen zu können. Er sei nicht gegen Neuerungen am Tarifsystem, sagt Hösly, aber das vorgeschlagene Modell sei untauglich.

Wie kommt er zu diesem harten Urteil? Das Sanatorium Kilchberg ist eine von 28 Kliniken, die an Swiss DRG Daten liefern, mit welchen das neue System entwickelt werden soll. Die Grundidee der Fallpauschale liegt darin, dass die Behandlung einer Krankheit mit einer fixen Pauschale abgegolten wird. So kostet zum Beispiel eine Blinddarmoperation rund 6000 Franken. Damit das System funktioniert, muss man zuverlässig vorhersagen können, wie gross der Behandlungsaufwand für eine bestimmte Krankheit ist.

Genau hier liegt das Problem: Die Auswertung der Daten hat laut Hösly gezeigt, dass die Gruppierung der Fälle nach Diagnosen und Schweregrad die Kostenvorhersage nicht verbessere. Psychische Erkrankungen lassen sich kaum in eine Schablone pressen. Eine Depression ist nicht mit einem entzündeten Blinddarm vergleichbar. Eine Blinddarmoperation verläuft, abgesehen von seltenen Komplikationen, immer gleich. Das gilt auch für die Nachbehandlung. Die Kosten können nahezu perfekt vorausgesagt werden. Bei einer Depression sieht das ganz anders aus. Die Ursachen und die persönlichen Voraussetzungen sind von Fall zu Fall so verschieden, dass eine individuelle Kostenprognose fast unmöglich ist.

Auch die Schweizerische Vereinigung Psychiatrischer Chefärztinnen und Chefärzte (SVPC) äussert sich kritisch zum Fallpauschalen-Modell: «Wir sind nicht grundsätzlich dagegen, am bestehenden System etwas zu ändern, aber den eingeschlagenen Weg sollte man nochmals überdenken», sagt Paul Hoff, Präsident der SVPC und stellvertretender Klinikdirektor der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Mittlerweile suche man in der Psychiatrie seit 30 Jahren nach Modellen, um die Behandlungskosten besser vorhersagen zu können, mit mässigem Erfolg. Den Hauptgrund sieht auch er darin, dass sich aufgrund der Diagnose kaum sagen lässt, wie lange jemand in der Klinik bleibt.

Es könne sein, dass jemand, der als schizophren diagnostiziert wurde, die Klinik schon nach wenigen Tagen verlasse, weil sich die Familie zu Hause um ihn kümmern könne. Ein anderer Patient mit der gleichen Diagnose könne auch ein ganzes Jahr lang in der Klinik bleiben. «Das Problem liegt nicht an der Unfähigkeit der Psychiater, sondern in der Natur der Sache», sagt Hoff. Wenn ein Modell gewählt werde, das keine zuverlässigen Prognosen erlaube, dann werde einigen Kliniken künftig systematisch zu viel Geld bezahlt, anderen systematisch zu wenig: «Das kann nicht das Ziel sein.»

Dass die therapeutische Qualität nachliesse, wie dies Hösly befürchtet, glaubt Hoff hingegen nicht. «Man kann unseren Ärzten zutrauen, dass sie auch mit einem neuen Modell seriöse Arbeit leisten.» Sicher bestünden gewisse Fehlanreize. Das sei aber beim heutigen System mit Tagespauschalen nicht anders, sie verleiteten die Kliniken eher dazu, Patienten länger als nötig zu behalten. Die SVPC will das Gespräch mit den Verantwortlichen bei Swiss DRG suchen, damit man allenfalls doch noch vom Fallpauschalen-Modell wegkommt.

«Debatte in Gang bringen»

Druck machen wollen auch die Gewerkschaft VPOD und die Stiftung Pro Mente Sana. Pauschalen in der Psychiatrie einzuführen, sei absurd, findet Beat Ringger, Zentralsekretär des VPOD. Er fürchtet um die Behandlungsqualität und glaubt, dass künftig vorschnell schwere Diagnosen gestellt würden, um von den entsprechenden Vergütungen profitieren zu können. Einen Spareffekt sieht er kaum: «Es würde eher zu einem Ausbau der stationären Psychiatrie führen.» Ökonomisch sinnvoller sei es, in die ambulante Psychiatrie zu investieren.

Auch Andreas Daurù, Geschäftsleitungsmitglied von Pro Mente Sana, plädiert für ein ganzheitliches Finanzierungssystem, das den ambulanten und stationären Bereich einbezieht. VPOD und Pro Mente Sana versuchen mit Ärzteverbänden eine Allianz gegen Tarpsy zu bilden. «Wir wollen eine Debatte über das Thema in Gang bringen», so Ringger. Schliesslich stehe hier eine Veränderung von grosser Tragweite an, ohne dass eine Vernehmlassung oder überhaupt nur eine gesellschaftliche Diskussion dazu stattfinde.

Die Front der Kritiker ist breit. Wie werden die Misstöne bei den Verantwortlichen wahrgenommen? Die Kritik sei verfrüht, sagt der Zürcher Gesundheitsdirektor Thomas Heiniger. Noch sei man mitten in der Entwicklung des neuen Systems. Daran ist der Kanton Zürich massgeblich beteiligt. Zum einen ist Heiniger Verwaltungsratspräsident von Swiss DRG, zum anderen arbeitet die Zürcher Gesundheitsdirektion zusammen mit dem Spitalverband H+ das Tarpsy-Modell aus. «Es liegt in der Natur der Sache, dass die Neuerung bei den Betroffenen zu Unsicherheiten und Ängsten führt», so Heiniger. Nicht zuletzt gehe es darum, die Vergleichbarkeit zu erhöhen. Da bestehe wohl bei einigen Ärzten die Angst, dass sie künftig an ihren Leistungen gemessen würden. Heiniger betont zudem, dass es nicht in erster Linie darum gehe, Geld zu sparen, sondern die Effizienz zu steigern; «das kann auch bedeuten, dass wir bei gleichen Kosten höhere Qualität erreichen».

«Unverfrorene Kritik»

Und wie sieht es mit der Kritik der Ärzte aus, dass es bei psychischen Erkrankungen fast unmöglich ist, die Behandlungskosten vorauszusagen? «Um diagnosebezogene Kostenprognosen machen zu können, braucht es genügend und genügend gute Daten», sagt Heiniger. Diese zu erheben, zu prüfen, auszuwerten und in ein Tarifmodell umzusetzen, sei ein Prozess. Bis zur Einführung 2018 werde man das Modell weiterentwickeln und auch danach laufend verbessern. «Wer heute schon unverfroren das Scheitern vorhersagt, weiss mehr als wir, die das System erst erarbeiten.»

Auch vor der Einführung von Fallpauschalen in der Akutsomatik habe es viel Kritik gegeben. Die Befürchtung, dass es blutige Entlassungen geben werde, habe sich indes nicht bewahrheitet, so Heiniger. Natürlich spreche man regelmässig mit der Ärzteschaft und habe ein offenes Ohr für ihre Anliegen. Ob das auch bedeuten könnte, dass man die Idee von Fallpauschalen für die Psychiatrie letztlich fallenlässt, wenn sich das Modell als untauglich erweisen sollte, oder ob man in jedem Fall daran festhalten wird, will Heiniger nicht kommentieren: «Das wäre zum jetzigen Zeitpunkt reine Spekulation. Auf jeden Fall ist die Entwicklung eines leistungsorientierten, pauschalierten Systems gesetzliches Ziel und damit Auftrag.»