Der Aufstand der Weisskittel

Um Russlands Gesundheitswesen steht es schlecht. Wer reich genug ist, lässt sich in einer Privatklinik oder im Ausland behandeln. Immer lauter wird eine Reform gefordert.

Daniel Wechlin, Moskau
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Die Missstände im russischen Gesundheitswesen machen dem medizinischen Personal die Arbeit schwer. (Bild: Eduard Korniyenko / Reuters)

Die Missstände im russischen Gesundheitswesen machen dem medizinischen Personal die Arbeit schwer. (Bild: Eduard Korniyenko / Reuters)

Während der politische Protest in Russland praktisch zum Erliegen gekommen ist, konsolidiert sich andernorts Widerstand gegen den Kreml: Immer häufiger gehen Ärzte, medizinisches Personal und Patienten auf die Strasse, um auf die Missstände im Gesundheitswesen aufmerksam zu machen. Innert Monatsfrist fanden in Dutzenden von Städten, von Petersburg im Westen bis nach Wladiwostok im Osten, Kundgebungen statt. In Moskau versammelten sich Tausende von Demonstranten auf dem zentralen Samotjotschnaja-Platz. Bei eisigen Temperaturen forderten sie, mehr Mittel für das Gesundheitssystem statt für den Krieg in der Ostukraine oder für Olympische Spiele auszugeben. Sie beklagten auch die «Kommerzialisierung der Medizin». Der Staat habe die Pflicht, Voraussetzungen für eine «menschenwürdige Medizin» zu schaffen. Demonstranten trugen Sensen mit sich. Auf einem Holzkarren war ein Sarg mit der Aufschrift «Für mich gab es kein Spitalbett» zu sehen.

Zweiklassenmedizin

In einer landesweiten Umfrage des Lewada-Zentrums geben 63 Prozent der Befragten an, kein Vertrauen in das russische Gesundheitssystem zu haben. 64 Prozent meinen, dass ihnen im Krankheitsfall keine gute Versorgung gewährleistet werden könne. Solche Ängste sind nicht unbegründet. Die russische Verfassung garantiert zwar jedem Bürger eine kostenlose medizinische Versorgung in staatlichen Einrichtungen. Doch das Gesundheitswesen krankt an chronischer Unterfinanzierung, mangelnder Effizienz und schlechter Qualität in Bezug auf Ausrüstung und Personal.

Besonders eklatant treten diese Mängel bei den staatlichen Einrichtungen zutage. Ein Hausarzt-System kennt Russland nicht. Die erste Anlaufstelle für alle medizinischen Belange sind Polikliniken. Wenn nötig, ordnen diese eine Überweisung in ein Spital an. Eine Untersuchung oder ein Aufenthalt in den qualitativ besseren, aber teuren Privatkliniken können sich nur wenige leisten. Und wer über das nötige Geld verfügt, lässt sich lieber gleich im Ausland behandeln. Immer mehr bildet sich eine Zweiklassenmedizin heraus.

Im internationalen Vergleich investiert Russland relativ wenig in das Gesundheitswesen. Gemessen am Bruttoinlandprodukt sind es nach einer Statistik der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) 6,3 Prozent. Die Schweiz wendet 11,4 Prozent, der Spitzenreiter USA 16,9 Prozent auf. Pro Kopf und Jahr sind es in Russland Ausgaben von umgerechnet 1423 Franken, gegenüber 6560 Franken in der Schweiz und 8441 Franken in den USA. 61 Prozent der Gesundheitskosten werden von der öffentlichen Hand übernommen, der OECD-Durchschnitt liegt bei 72 Prozent.

Die medizinische Grundversorgung in Russland wird dabei durch eine obligatorische Krankenkasse übernommen, die durch Beiträge der Arbeitgeber finanziert ist. Der Fehlbetrag wird vom Staat ausgeglichen. Letztgenanntes fällt nun allerdings weg: Eine vor mehreren Jahren beschlossene Reform sieht vor, ab dem 1. Januar die Finanzierung der Versicherung vom Staatshaushalt zu lösen.

Massenentlassungen geplant

Laut Kritikern wird damit die Lage des Gesundheitssystems noch prekärer. Die Versicherung erwirtschafte aus eigener Kraft viel zu wenig Geld, sagen sie. Dies auch deswegen, weil in Russland die Schattenwirtschaft noch immer stark verbreitet ist und viele Russen nur Teile ihrer Einnahmen versteuern. Die Versicherungsbeiträge sind entsprechend gering. Weitere Kritikpunkte sind, dass die kostenlose Behandlung in den staatlichen Kliniken über Kontingente geregelt ist und gewisse Gruppen von Angestellten (mit staatlichen Arbeitgebern) privilegiert werden. Da die Quoten zu knapp bemessen sind, leiden Patienten oft unter langen Wartezeiten. Dies könnte sich weiter zuspitzen, da die Reform an diesem System festhält. Zudem sind zahlreiche Schliessungen und Fusionen öffentlicher medizinischer Einrichtungen geplant.

Der Staat rechtfertigt die Reform als notwendige Redimensionierung und Neuorganisation, wodurch Abläufe effizienter würden und die Qualität der medizinischen Versorgung verbessert würde. Gegner sehen darin eine kontraproduktive, unüberlegte Hauruckübung. Besonders heftig wird die Debatte in Moskau geführt, wo die Stadt 2015 ohnehin das Budget für das Gesundheitssystem kürzen will. Im Oktober veröffentlichten Medien ein Dokument des Bürgermeisteramtes, das viele aufschreckte und zu den jüngsten Demonstrationen führte: In den nächsten zwei Jahren sollen in der Hauptstadt 28 medizinische Einrichtungen, unter ihnen 18 Spitäler, geschlossen werden. Gewerkschaften befürchten, dass 7000 bis 10 000 Personen ihre Stelle verlieren könnten. Landesweit wurden 2013 bereits 302 Spitäler und 76 Polikliniken geschlossen.

In die Kontroverse hat sich mittlerweile auch Präsident Putin eingeschaltet. Zugeständnisse machte er zwar keine, aber er räumte ein, die Behörden hätten wohl nicht an alles gedacht. Noch sei nicht alles beschlossen. Der Moskauer Bürgermeister Sergei Sobjanin geriet unter Zugzwang. Er musste eingestehen, dass es zu Massenentlassungen kommen werde. Er kündigte eine einmalige Entschädigungszahlung von umgerechnet bis zu 9200 Franken sowie Hilfe bei Umschulungen für Betroffene an. Die Protestierenden geben sich damit nicht zufrieden. Es sei blosse Augenwischerei. Die Behörden würden versuchen, sich durch Spitalschliessungen und den Verkauf der dazugehörigen Parzellen zu bereichern. Gelder würden in teure medizinische Geräte statt in Qualität und Personal investiert, argwöhnen viele. Zwar sehen auch die Demonstranten die Notwendigkeit einer Gesundheitsreform. Sie plädieren aber für ein Moratorium bei Spitalschliessungen und für ein stärkeres Mitspracherecht von Ärzten und anderen Fachpersonen.

Anna Sonkina geht noch einen Schritt weiter. Die 30-jährige Kinderärztin, die an der staatlichen Pirogow-Universität in Moskau unterrichtet, fordert eine «Demokratisierung» des ganzen Gesundheitswesens. Die wichtigsten Personalentscheide in Ausbildung, Forschung und im Spitalwesen seien politischer Natur. Es gebe zu wenige Interessenvertretungen für medizinische Fachleute. Diese besässen keine Lobby, ihr Know-how bleibe ungenutzt. Allerdings stünden auch die Ärzte in der Verantwortung, nicht alles sei die Schuld des Staates, sagt Sonkina. In Russland müsse viel mehr in die individuelle Aus- und Weiterbildung investiert sowie überhaupt ein Verständnis für Effizienz und Qualität im Ärzteberuf entwickelt werden. Diagnostik und Therapie-Ansätze seien veraltet. Patienten würden länger als nötig im Spital stationär behandelt. Hinzu komme eine generell mangelhafte Ausstattung vieler Kliniken. Diese hätten oft zu wenig Medikamente und veraltetes Gerät.

Kriminalisierte Schmerzmittel

Der russische Rechnungshof hat ausserdem festgestellt, dass staatliche Einrichtungen immer wieder Betten, die eigentlich Patienten mit Allgemeinversicherung vorbehalten wären, zahlungskräftigen Patienten überlassen. Medien berichten von Fällen, in denen abgewiesene Patienten wegen zu langer Wartezeiten oder unsachgemässer Behandlung stärker erkrankten oder gar verstarben.

Für besonderes Aufsehen sorgte 2014 der Selbstmord eines schwerkranken Krebspatienten. Der pensionierte Admiral nahm sich das Leben, nachdem ihm zum wiederholten Mal die Abgabe von Morphin verweigert worden war. Aufgrund einer rigorosen Betäubungsmittel-Gesetzgebung sind viele Schmerzmittel in Russland kriminalisiert. Der Admiral hinterliess einen Abschiedsbrief, in dem stand: «Niemand ist schuld an meinem Tod ausser dem Gesundheitsministerium und der Regierung.» Patienten und engagierte Ärzte schmuggeln deshalb oft Schmerzmittel nach Russland.

Es sind nicht nur solche Extremfälle, die das Vertrauen der Leute in das Gesundheitssystem erschüttern. Schon nur kleinere Verletzungen sind für Patienten in Russland zuweilen mit Ungemach und erheblichem Aufwand verbunden. Davon weiss auch Swetlana Pawlowa zu berichten. Die Moskauer Geschäftsfrau hatte sich kürzlich in der Türe der Metro einen Finger eingeklemmt und gebrochen. Ein wahrer Spiessrutenlauf begann: Zuerst musste sie eine Poliklinik finden, die abends überhaupt allgemeinversicherte Patienten aufnimmt, beziehungsweise abklären, ob dort ein Röntgenapparat vorhanden ist. Nach mehreren Telefonaten wurde sie an ein kleines Ambulatorium verwiesen. Nachdem sie dort angekommen und untersucht worden war, wurde ihr mitgeteilt, dass die Einrichtung nicht über das notwendige Verbandszeug und auch nicht über eine Schiene für den Finger verfüge. All dies musste sie in einem Geschäft für Medizinalzubehör selbst besorgen. Die eigentliche Verarztung erfolgte danach nicht mehr im Ambulatorium, sondern auf «Anraten» des Arztes in Eigenregie.

Zum Spitalalltag gehören, wie Patienten erzählen, auch «Extrazahlungen» im Gegenzug für eine schnelle Aufnahme oder aufmerksamere Betreuung der Patienten durch das Pflegepersonal. Ärzte wiederum signalisieren, dass sie wohl im Besitz von besseren Medikamenten wären, diese aber notabene mehr kosteten. Die Grenze zwischen einem solidarischen Zustupf im Wissen um die schlechte Bezahlung des Spitalangestellten und offensichtlicher Korruption beziehungsweise der Ausbeutung Notleidender ist fliessend.

Wo die Zustände besonders stossend sind, versuchen mitunter Privatpersonen zu helfen. Die Mutter der Ärztin Sonkina trifft sich regelmässig mit Freundinnen, um für ein grosses Moskauer Kinderspital zu kochen. Die vom Spital angebotene Verpflegung sei unzumutbar und überhaupt nicht auf die Bedürfnisse der kleinen Patienten ausgerichtet, erzählt sie. Die Initiative der Frauen spricht sich herum. Die Freiwilligen verteilen die Spezialnahrung gratis an die Eltern der jungen Patienten, ganz diskret. Das Engagement der Frauen ist nicht mit der Spitalleitung abgesprochen und würde wahrscheinlich nicht erlaubt werden.

Chirurg als Möbelpacker

Ob motivierte und gut ausgebildete Leute mit Auslanderfahrung wie die Kinderärztin Sonkina auch künftig noch in genügender Zahl den Beruf des Arztes in Russland ergreifen, ist fraglich. Die Arbeitsbedingungen sind unattraktiv. Laut dem nationalen Statistikamt beträgt der durchschnittliche Monatslohn eines Arztes in Moskau 1130 Franken. Um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können, müssen viele eine zweite Arbeit annehmen. Ein Moskauer Chirurg erzählt, dass er zusätzlich als Möbelpacker schufte, ein Allgemeinpraktiker versucht sich nebenher als Informatik-Supporter. Noch geringer ist die Bezahlung in der Provinz, besonders schlecht steht es um das Pflegepersonal.

In Russland herrscht jetzt schon ein ausgeprägter Mangel an Ärzten und medizinischem Personal. Laut Gusel Ulumbekow vom Verband der medizinischen Fachgesellschaften für Qualität in Pflege und Ausbildung haben landesweit 40 Prozent der medizinischen Einrichtungen zu wenig Personal. Die Zahl der Ärzte nahm seit 2012 um 8 Prozent ab. Die Situation droht sich weiter zu verschlechtern, vor allem deswegen, weil zwei Drittel der heutigen Ärzte bereits im Rentenalter stehen und bald in Pension gehen werden. Dies bedeutet für die praktizierenden Ärzte eine wachsende Zahl von Patienten und eine höhere Arbeitsbelastung. Die Patienten wiederum müssen sich auf immer kürzere Untersuchungen gefasst machen sowie auf noch längere Wartezeiten, obwohl diese bereits jetzt manchmal mehrere Monate betragen.