Wer sich im Krankenhaus behandeln lassen muss, braucht Urvertrauen – auch und vor allem in die Pflegekräfte. Aber die Basis dieses Vertrauens bröckelt, hat der StZ-Autor Wolfgang Borgmann beobachtet.

Stuttgart - Wenn ein Mensch ins Krankenhaus gehen muss, mit seinen Kleidern auch seine Alltagssicherheit ablegt und in das Operationshemd schlüpft, schließlich heruntergefahren wird und im Narkoseschlaf versinkt, ist er darauf angewiesen, dass sich Menschen seiner annehmen, denen er vollkommen ausgeliefert ist und denen er zugleich grenzenlos vertrauen muss – eine Art von Urvertrauen.

 

Wenn nicht Schwestern und Pfleger ihn bis in die kleinsten Verrichtungen des Alltags begleiten, ist er im wahrsten Sinn des Wortes verloren. Nirgendwo anders ist ein Mensch so ausgeliefert wie im Krankenhaus, so nackt und bloß wie auf einem OP-Tisch, bei der Untersuchung im Krankenbett oder nach einer niederschmetternden Diagnose. Da wird jede Geste, jedes Wort, jedes sanfte Streicheln, jedes ermutigende Lächeln kostbar, vermittelt es doch das Gefühl, trotz allem geborgen zu sein. Ohne Vertrauen geht dort nichts. Wenn das verloren zu gehen droht, ist Gefahr im Verzug. Das gilt für Pflegende, für Ärzte erst recht.

Stundenlang ohne Hilfe – ein Einzelfall?

Es ist schon auffallend, wie oft in letzter Zeit die Vertrauensfrage öffentlich gestellt wurde. Dazu gehören alarmierende Berichte über zu viele und zum Teil unnötige chirurgische Operationen in deutschen Kliniken, für die die AOK wichtiges Datenmaterial lieferte. In einem privaten Herzzentrum im Bodenseeraum ermittelten Staatsanwälte wegen des Verdachts von Unregelmäßigkeiten mit gespendeten menschlichen Herzklappen. Berichte über Manipulationen bei gespendeten Organen erschütterten nicht nur die deutsche Transplantationsmedizin, sondern beschädigten auch das Vertrauen von Patienten in saubere Abläufe und nicht korrumpierbare Mediziner.

Aber wie soll das Vertrauen in das System Krankenhaus erhalten bleiben, wenn verlässliche Berichte im Bekannten- und Freundeskreis, aber auch in den Medien die Runde machen, die wenig Anlass geben, angstfrei das Krankenhaus aufzusuchen? Da fährt ein Paar im mittleren Lebensalter mit dem Wohnmobil in die Mitte der Republik, wird auf dem Campingplatz von einer wüsten Magen-Darm-Infektion niedergestreckt, worauf der nicht ganz so stark betroffene Ehemann es noch schafft, seine Frau in ein Krankenhaus bringen zu lassen. Nach der Aufnahme passiert Stunde um Stunde nichts, keine Infusion, nichts. Immerhin wird der Bitte der ausgetrockneten und dahindämmernden Patientin um Wasser entsprochen. Die Nadel ist bei der Aufnahme gelegt worden, genutzt wird sie erst ein ganzen Tag später. Ein Einzelbeispiel?

Wenn eine lang gediente Krankenschwester, plötzlich selbst zur Patientin geworden, berichtet, wie sie in dringender Not wiederholt den Klingelknopf drückt, keine Hilfe erfährt und sich schließlich notdürftig selbst hilft, kann man sich gut vorstellen, wie das erst einem ungedienten Patienten gehen muss.

Je älter die Patienten sind, desto mehr Zuwendung ist nötig

Natürlich sind das Einzelfälle, die noch nichts über den Gesamtzustand von Medizin und Pflege aussagen. Aber sie geben Hinweise, dass es in Teilen nicht zum Besten stehen kann. Dabei sind das noch vergleichsweise harmlose Beispiele.

Zu erinnern ist etwa an den Bericht einer Angehörigen, der vor gut zehn Jahren in der Stuttgarter Zeitung erschien, über die Irrwege ihres demenzkranken Mannes in einem Krankenhaus im Großraum Stuttgart. Der Mann wurde wegen einer vergleichsweise einfachen Untersuchung aufgenommen, konnte sich aber nicht verständigen und wurde zwischen den Abteilungen endlos hin- und hergeschoben. Voller Angst, völlig verzweifelt und orientierungslos verlangte er nach seiner Frau, die kurzzeitig wegen einer Verletzung nicht an seiner Seite sein konnte. Beide erlebten das als „Vorhölle“. Das scheint lange her zu sein.

Aber offenbar sind vergleichbare Vorfälle auch heute noch möglich. Erst Ende vergangenen Jahres erlebte eine Frau Ähnliches in einem Klinikum im Umkreis von Stuttgart mit ihrer Mutter. Die Alzheimer-Patientin sollte zu einem eintägigen Routinecheck ins Krankenhaus kommen, wurde dort allein gelassen, stürzte, zog sich einen Bruch des Oberschenkels zu, wurde notoperiert und zehn Tage später entlassen – im Krankenhaushemd, ohne Nachricht an die Angehörigen. Kaum zu glauben, aber leider wahr. Angehörige, die solch skandalöse Fälle erleben müssen, verlieren ihr Vertrauen in das System Krankenhaus insgesamt. Kann man es ihnen verargen? Sind das Einzelfälle? Vielleicht. Vielleicht auch nicht.

Zeit ist heute das knappste Gut

Nicht nur die Pflegeheime spüren den Druck durch die spezifischen medizinischen Probleme Hochbetagter, sondern eben auch Krankenhäuser, die diese Menschen übernehmen müssen, wenn die Möglichkeiten der Heimpflege nicht mehr ausreichen. Die wachsende Zahl von demenzkranken Patienten belastet die Pflegekräfte noch stärker, als dies ohnehin schon der Fall ist. Gerade diese Menschen sind auf eine sensible Pflege angewiesen, auf Schwestern und Pfleger, die ihre Not und ihre Beschwerden erahnen, auch wenn die Erkrankten sich nicht mehr ausdrücken können. Diese Patienten brauchen Zeit, viel Zeit. Und Zeit ist heute das knappste Gut.

Dabei lastet ohnehin auf Schwestern und Pflegern der Hauptdruck der täglichen Routine, von der Aufnahme bis zur Entlassung. Dazu gehört die umfangreiche Dokumentation, natürlich die möglichst sorgfältige Pflege, Zeit für verwirrte Patienten, Zeit für Kontakt mit Angehörigen. Das Pflegepersonal soll zudem verstärkt auf die zwingend notwendigen Hygienemaßnahmen im Kampf gegen die wachsende Bedrohung durch Krankenhauskeime achten. Wie soll das angesichts der Knappheit an qualifiziertem Personal auf die Dauer zu leisten sein?

Zwei engagierte und erfahrene Fachschwestern aus dem Großraum Stuttgart kommen zu dem Urteil: „Es ist in den letzten zehn Jahren immer schwerer geworden.“ Gründe gibt es genug: Personaleinsparungen, Beschäftigung von weniger qualifizierten Kräften und „Arbeitsverdichtung“, was heißt, mehr Patienten in kürzerer Zeit zu versorgen. Und das zu einer Zeit, da durch die zunehmende Alterung der Patienten die Komplikationen mehr werden. Eine Fachschwester und Supervisorin kommt am Ende ihres erfüllten Berufslebens in zwei Stuttgarter Kliniken und in einer Stuttgarter Großpraxis zu dem Urteil: „Aufgrund meiner Erfahrungen kann ich kaum noch jemandem empfehlen, in einen Pflegeberuf zu gehen. Der Druck wird immer größer.“

Die Fallpauschalen haben nichts Gutes gebracht

Die Krankenhäuser wurden unter dem Einfluss der vor zehn Jahren politisch gewollten Fallpauschalen darauf ausgerichtet, Patienten so schnell und so kostengünstig wie möglich durchzuschleusen. Man darf man sich nicht darüber wundern, wenn auch die stabilsten Pflegekräfte unter dem zunehmenden Zeitdruck ermüden und schließlich resignieren. Wer schon in jungen Jahren mit Nachtwachen für vierzig Patienten belastet wird und, wenn es schlecht läuft, kaum Zeit findet, von Notfall zu Notfall zu eilen, der wird auf die Dauer seine Spannkraft verlieren. Können wir es uns leisten, eine Generation hochmotivierter, gut ausgebildeter und fähiger Schwestern und Pfleger zu verschleißen?

Dabei sollten gerade die Fallpauschalen dazu dienen, unnötig lange Liegezeiten, wie es vom alten System mit seinen Pflegesätzen begünstigt wurde, zu vermeiden und damit zeitliche Reserven auch für das Personal zu schaffen. Jede diagnosebezogene Fallgruppe wurde jetzt genau etikettiert, klassifiziert und mit einem Preisschild versehen. Es zählt nicht mehr die Verweildauer, sondern die Art der Erkrankung. Entwickelt hat sich ein System, das Tendenzen Vorschub leistet, sich auf für die Klinik lohnende Eingriffe zu konzentrieren.

Ärzte und Pflegekräfte beklagen die Folgen einer Reform, die zwar zu den erwünschten kürzeren Liegezeiten geführt hat, dem Patienten aber zunehmend das Gefühl gibt, er werde so schnell wie möglich durchgereicht. Das Personal hechelt hinterher. Schon vor vier Jahren machte das böse Wort vom „unrentablen Patienten“ die Runde durch die Kliniken. So berichtete das „Deutsche Ärzteblatt“.

Manche lassen sich den Glauben nicht nehmen

Dabei ist es erstaunlich, dass auch heute noch Patienten immer wieder auf positiv gestimmte Schwestern und Pfleger treffen, die sich trotz allem den Glauben nicht nehmen lassen, sie hätten den Beruf vor allem deshalb gewählt, um Menschen praktisch zu helfen, Menschen, mit denen sie täglich umgehen und die sich ihnen in ihrer körperlichen und oft auch seelischen Not anvertrauen. Dazu gehört auch, dass die Pflegekräfte natürliche Schamgrenzen ihrer Patienten durch Professionalität und Freundlichkeit überwinden müssen.

Auch wenn die Einzelbeispiele nichts Gutes ahnen lassen, ist das deutsche Gesundheitssystem noch relativ stabil. Die Wartezeiten halten sich, anders als in England, noch in Grenzen, die praktizierte Medizin ist in der Regel immer noch gut. In den von der Finanzkrise gebeutelten Ländern wie Spanien und Griechenland werden Versicherung und Krankenbett oft unbezahlbar, gibt es nicht selten Medizin nur noch gegen Kasse. Obwohl im Vergleich etwa mit Italien, wo Angehörige oft genug die Grundpflege übernehmen müssen, die Pflegesituation in deutschen Krankenzimmern noch erträglich sein mag, gibt es auch hierzulande Warnzeichen genug.

Wissenschaftler des Fachbereichs Pflegewissenschaft der Universität Basel haben vor Kurzem in einer Übersichtsarbeit über die Pflegesituation in Europa festgehalten, dass deutsche Krankenhäuser relativ ungünstig in mehreren Punkten abschneiden, darunter Ausbildungsstand des Pflegepersonals, Verhältnis der Zahl von Pflegenden zu Gepflegten und Auslassen von an sich notwendigen Tätigkeiten aus Zeitgründen. Dazu gehören „psychosoziale Komponenten“, sprich einfühlsame Gespräche und Erklärungen, aber auch normale pflegerische Arbeiten.

Im internationalen Vergleich steht das Land nicht gut da

Dass deutsche Krankenhäuser dieser Studie zufolge im Pflegebereich deutlich hinter Ländern wie Schweiz, Niederlande und Schweden liegen (wenn auch immerhin noch vor Griechenland), ist bemerkenswert. Nach Angaben der Wissenschaftler aus Basel waren 33 659 Pflegende in zwölf europäischen Ländern zum Thema Pflege befragt worden. Aus ihrem gesichteten Datenmaterial ist keineswegs abzuleiten, dass Krankenhäuser in Deutschland insgesamt schlecht abschneiden, wohl aber, dass es beträchtliche Mängel in der Pflege gibt. Das muss aufhorchen lassen, wenn ebenfalls in Studien belegt ist, dass bessere Pflege zugleich schnellere Gesundung und weniger Todesrisiken bedeutet. So gesehen zahlt sich mehr und besser ausgebildetes Pflegepersonal aus, auch wenn es zunächst mehr Geld kostet.

Dass die „Pflege am Boden liegt“ haben Schwestern und Pfleger vor Kurzem wortwörtlich genommen und sich in einer lose koordinierten Aktion bundesweit für zehn Minuten mitten in 80 Städten auf den Boden gelegt, darunter in Freiburg, Göppingen und Ulm. Die eindrucksvollen Bilder vom Liege-Protest wanderten quer durch die Medienlandschaft und verfehlten auch im Fernsehen ihre Wirkung nicht. Die Situation der Pflegenden habe sich in den vergangenen Jahren ,,stetig verschlechtert“, heißt es in einem Aufruf. Schmerzpunkte seien Arbeitskräftemangel, zu niedrige Bezahlung und eine geringe Wertschätzung ihrer Arbeit.

Gibt es denn gar keine gute Nachricht?

Mit öffentlichen Aktionen machen jetzt Menschen aus Pflegeberufen, die sich lange zurückgehalten haben, nicht nur auf ihre eigenen Nöte aufmerksam, sondern handeln ganz im Sinne der Patienten, die unter den Zuständen leiden, aber nicht viel zu sagen haben. Wohl auch im Sinne der Ärzte, die etwas besser gelernt haben als andere Gruppen, sich zu wehren. Und die auf gute und angemessen bezahlte Helfer im Alltag angewiesen sind.

Aber gibt es denn überhaupt keine gute Nachricht zum guten Schluss?

Ja, die gibt es.

Wenn sie wie ein Engel ins Krankenzimmer schwebt, sich mit sanfter Stimme nach Wünschen erkundigt und dann Gute Nacht sagt, dann legt sich so etwas wie Abendfrieden über die Patienten. Und wenn dann, in einer plötzlich auftretenden Gefahrensituation, diese fast zart anmutende Schwester, höchst umsichtig, professionell und mit einer erstaunlichen Autorität für ihr junges Alter, die schwierige Situation meistert, dann müsste einem um die Zukunft der Pflege und des Krankenhausklimas nicht bange sein. Und dennoch sind sie im höchsten Maße gefährdet.