Psychiatr Prax 2013; 40(08): 409-410
DOI: 10.1055/s-0033-1349652
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Das Fach Psychiatrie und Psychotherapie im Wandel

Differenzierte psychotherapeutische Angebote – Qualitätsmerkmal einer KlinikChanges in Psychiatry and PsychotherapySpecialised Psychotherapy – A Quality Feature of a Clinic
Olaf Schulte-Herbrüggen
Psychiatrische Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig-Krankenhaus
,
Jürgen Gallinat
Psychiatrische Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig-Krankenhaus
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Korrespondenzadresse

Priv.-Doz. Dr. Olaf Schulte-Herbrüggen
Psychiatrische Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig-Krankenhaus
Große Hamburger Straße 5-11
10115 Berlin

Publication History

Publication Date:
05 November 2013 (online)

 

Die zunehmend gute Datenlage für differenzierte psychotherapeutische Interventionen bei schweren und chronischen psychischen Erkrankungen verändert das therapeutische Angebot der psychiatrischen Kliniken in Deutschland [1] [2] [3] [4] [5] [6] [7]. Wo früher zum Teil die klinisch-psychiatrische Visite, eine medikamentöse Beratung und ein allgemein gehaltenes Programm auf alle Diagnosegruppen angewendet wurden, fordert der aufgeklärte Patient heute das störungsspezifische Programm. Dies ist auch richtig so und hat die Aufnahmesituation vielerorts verändert.

An Orten, wo solche Angebote aus wirtschaftlichen oder konzeptionellen Gründen nicht umgesetzt werden, ist der ambulante Sektor umso mehr gefordert und meist überfordert. Wir wissen mittlerweile gut, dass die Aufnahme von Patienten mit Borderline-Störung in ein allgemeinpsychiatrisches Setting deren Verlauf eher verschlechtert. Zunehmend erfolgt daher die direkte Zuweisung in störungsspezifische Einheiten, z. B. mit DBT-Programm. Die für eine erfolgreiche Behandlung von Zwangsstörungen notwendige intensive Exposition wird häufig nur in damit erfahrenen spezialisierten Settings durchgeführt. Die Gefahr, dass ein Patient mit Angsterkrankung während eines Aufenthalts in einem ungerichteten Setting mehr vermeidet als Exposition mit angstbesetzten Situationen durchführt, ist hoch. Die eher ernüchternden metaanalytischen Daten zu Effektstärken der medikamentösen Therapie mit Antidepressiva betonen die leitliniengerechte Durchführung der wirksamen Psychotherapie bei depressiven Patienten [8] [9].

Daher entstehen vielerorts differenzierte Therapiepfade, die sich an wissenschaftlichen Studien orientieren. Beispiele dafür sind Programme für Patienten mit Essstörungen, mit chronischer Depression z. B. nach CBASP, spezielle Konzepte für Patienten mit Suchterkrankung in Kombination mit Schizophrenie oder Sucht mit komorbider Borderline-Erkrankung (DBT-Sucht). Dazu kommen intensive Therapie- und Betreuungsangebote für schizophrene Ersterkrankte in Anlehnung an die Soteria-Konzepte.

Diese Entwicklung stellt besondere Herausforderungen an die Organisationsstruktur der psychiatrischen Kliniken und die Behandler dar. Aus dem Facharzt für Psychiatrie ist der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie geworden. Mit der aktuellen Psychotherapieausbildung im Rahmen des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie sind die komplexen Programme kaum mehr vermittelbar. Die State-of-the-Art-Behandlung im störungsspezifischen Setting fordert darüber hinaus Zusatzqualifikationen bei den behandelnden Ärzten, Psychologen und der Pflege. Modular werden Behandlungselemente für den Patienten zusammengestellt. Längst ist ein großer Markt entstanden, um Kollegen in einer Vielzahl von Curricula mit Zertifikaten zu versehen. Vielerorts verändert sich daher auch das Berufsbild der Pflegenden zu dem eines Co-Therapeuten mit wöchentlichen Einzelstunden und klar formuliertem Therapieauftrag.

Dabei muss allen Beteiligten im System insbesondere Kostenträgern, Politik, Verwaltung und Ärzten eines klar sein: Psychotherapie ist personalintensiv! Im Rahmen wirksamerer Behandlungen werden im System Kosten durch die reduzierte Anzahl von Krankenhausaufenthalten, die Reduktion von Tagen der Arbeitsunfähigkeit und Folgekosten der Chronifizierung gespart. Die weiterhin hohe Prävalenz psychischer Erkrankungen, insbesondere im Bereich der affektiven Erkrankungen, erzeugt immense Kosten im Gesundheitssystem, im Rentensystem und in volkswirtschaftlicher Hinsicht. Hier sind wirksame und spezialisierte Interventionen von zentraler Bedeutung.

Psychotherapeutische Behandlungsstandards und neues Entgeltsystem

Die Folgen des kommenden Vergütungssystems in der psychischen Medizin sind bisher schwer abzuschätzen. Eines scheint jedoch gewiss: Mehr Ressourcen kommen nicht ins System. Darüber hinaus gibt es durch die geplante abnehmende Vergütung der Tagespauschale im Verlauf der Liegezeit einen neuen Anreiz für Kurzaufenthalte in der Klinik. Die PsychPV entfällt und damit die gesetzliche Grundlage einer Mindestausstattung an therapeutischem Personal. Für viele Kliniken ist mit einem sinkenden Erlös zu rechnen, der den finanziellen Druck auf die Klinikleitungen erhöht. Ein damit einhergehender Abbau personalintensiver Versorgungsstrukturen, insbesondere psychotherapeutischer Ressourcen, wäre äußerst problematisch. Vor dem Hintergrund der gerechtfertigten Forderung nach angemessener Vergütung der Psychologen im Ausbildungsjahr spitzt sich die Situation für die psychotherapeutische Versorgung weiter zu.


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Divergenz von Bedarf, politischer Forderung und Systementwicklung am Beispiel der Traumatherapie

Nachdem das Thema der Traumafolgestörungen, insbesondere nach frühkindlichem Missbrauch, in den vergangenen Jahren durch die Skandale in Schulen und Betreuungseinrichtungen die Öffentlichkeit erreicht hat, sind die Forderungen nach bedarfsgerechten Behandlungsangeboten in einer Vielzahl an prominent besetzten Kommissionen und runden Tischen formuliert. Hinzu kommt die öffentlich geführte Debatte um die Versorgung der Bundeswehrsoldaten mit Traumafolgestörungen nach Kampfeinsätzen. Darüber hinaus sind die hohen Zahlen an Arbeitsunfähigkeitszeiten durch psychische Traumatisierung während der Berufsausübung in das Bewusstsein der Unfallversicherungsträger gerückt. Demgegenüber stehen zunehmend gute Studien und Erfahrungen zur Therapie von Traumafolgestörungen wie der Posttraumatischen Belastungsstörung zur Verfügung. Sie erfordern ein hohes Maß an expositionsorientierter Therapie. Aufgrund der sehr belastenden und individuell unterschiedlichen Aspekte erfordert die Therapie dabei einen hohen Anteil an Einzelpsychotherapie. Neben einem hohen Übungsbedarf ist in vielen Fällen die baldige Wiederaufnahme der beruflichen Tätigkeit und Belastbarkeit ein Anliegen der Patienten. Im Rahmen der Expositionstherapie und der notwendigen Außenorientierung bietet sich daher ein möglichst ambulantes Setting an.

Es kondensieren an diesem Beispiel alle Forderungen zwischen wissenschaftlich untermauerter Therapie, politisch und gesellschaftlichem Auftrag, Ambulantisierung und ressourceneffizienter Betreuung. Wir sind diesem Auftrag an unserer Klinik mit einem tagesklinischen Intensivangebot (8 Plätze) auf der Basis eines verhaltenstherapeutischen und DBT-basierten Konzepts begegnet. Dies beinhaltet u. a. täglich mindestens 2 störungsspezifische Gruppen und 4 psychologisch/ärztliche Einzeltherapien pro Woche (wobei 2 Sitzungen auch von spezialisierten pflegerischen Co-Therapeuten durchgeführt werden können). In den meisten Fällen ist ein beruflicher Wiedereinstieg direkt im Anschluss möglich. Die deutliche Nachfrage zeigt den erheblichen Versorgungsbedarf.

Ein solches Angebot erfordert deutlich mehr personelle Ressourcen als nach PsychPV zur Verfügung steht. Insbesondere, da nach dem herkömmlichen Vergütungssystem die teilstationäre Behandlung personell besonders wenig berücksichtigt wird. Dies bedeutet, dass eine wirksame und effektive Versorgung, wie im Falle der Traumatherapie gefordert, flächendeckend nicht gewährleistet werden kann.


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Neue Vergütungssysteme – ein Ausweg?

Vollstationäre psychotherapeutische Behandlung ist nur bei einem geringen Anteil von Patienten medizinisch indiziert und birgt die Gefahr der verminderten Außenorientierung. Insbesondere wenn sich die psychiatrisch-psychotherapeutische Medizin in Deutschland vermehrt dem Ziel der (beruflichen) Wiedereingliederung stellen möchte, besteht die medizinische Herausforderung in einer intensivierten teilstationären oder ambulanten Versorgung. Diese wird derzeit unzureichend umgesetzt, da das starre Vergütungssystem der Klinik unzureichend Spielraum gibt, seine Ressourcen flexibel auf die Versorgungssituation und sein Patientenklientel abgestimmt einzusetzen.

Komplexe integrierte Versorgungskonzepte könnten eine Lösung darstellen. Hierbei haben die Kliniken die Möglichkeit, über das ganze Spektrum der Interventionen und dem damit verbundenen Einsatz ihres Personals zu verfügen. Diese Interventionen können das Krisengespräch zu Hause beim Patienten (Hometreatment und andere Varianten), Telefonkontakte, aber eben auch ein psychotherapeutisches Intensivprogramm im tagesklinischen Setting bedeuten. Der vollstationäre Bereich könnte dann in der Kapazität reduziert und vermehrt für Patienten genutzt werden, denen eine Übernachtung aufgrund schwerer Symptomatik, Suizidalität etc. nicht möglich ist. Eine solche Versorgung findet komplementär und enger verzahnt mit den bestehenden ambulanten Angeboten der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung statt.

Diese Überlegungen zu einer Verschiebung der Ressourcen innerhalb des Krankenhaussystems sollen aber nicht davon ablenken, dass mit dem aktuellen Bedarf an psychotherapeutischer Versorgung zusätzliche Ressourcen benötigt werden. Da zeitnah nicht mit einer deutlichen Entspannung der psychiatrisch-psychotherapeutischen Krankenhausfinanzierung zu rechnen ist, muss befürchtet werden, dass durch den wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Druck Angebote entstehen, deren Namen eine intensive psychotherapeutische Behandlung nahe legen, die aber personell so dünn gestrickt sind, dass sie dieses Versprechen und damit die Qualität nicht halten können. Es besteht Handlungsbedarf!


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Olaf Schulte-Herbrüggen

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Jürgen Gallinat

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  • Literatur

  • 1 Stoffers JM, Völlm BA, Rücker G et al. Psychological therapies for people with borderline personality disorder. Cochrane Database Syst Rev 2012; (8)
  • 2 Bisson J, Andrew M. Psychological treatment of post-traumatic stress disorder (PTSD). Cochrane Database Syst Rev 2007; (3)
  • 3 Gava I, Barbui C, Aguglia E et al. Psychological treatments versus treatment as usual for obsessive compulsive disorder (OCD). Cochrane Database Syst Rev 2007; (2)
  • 4 Hay PP, Bacaltchuk J, Stefano S et al. Psychological treatments for bulimia nervosa and binging. Cochrane Database Syst Rev 2009; (4)
  • 5 Gould RA, Buckminster S, Pollack MH et al. Cognitive-behavioral and pharmacological treatment for social phobia: A meta-analysis. Clin Psychol 1997; 4: 291-306
  • 6 Mitte K. Meta-analysis of cognitive-behavioral treatment for generalized anxiety disorder: A comparison with pharmacotherapy. Psychol Bull 2005; 131: 785-795
  • 7 Mitte K. A meta-analysis of the efficacy of psych- and pharmacotherapy in panic disorder with and without agoraphobia. J Affect Disord 2005; 88: 27-45
  • 8 Keller MB, McCullough JP, Klein DN et al. A comparison of nefazodone, the cognitive behavioral-analysis system of psychotherapy, and their combination for the treatment of chronic depression. N Engl J Med 2000; 342: 1462-1470
  • 9 Nemeroff CB, Heim CM, Thase ME et al. Differential responses to psychotherapy versus pharmacotherapy in patients with chronic forms of major depression and childhood trauma. Proc Natl Acad Sci 2003; 100: 14293-14296

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Priv.-Doz. Dr. Olaf Schulte-Herbrüggen
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Große Hamburger Straße 5-11
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  • Literatur

  • 1 Stoffers JM, Völlm BA, Rücker G et al. Psychological therapies for people with borderline personality disorder. Cochrane Database Syst Rev 2012; (8)
  • 2 Bisson J, Andrew M. Psychological treatment of post-traumatic stress disorder (PTSD). Cochrane Database Syst Rev 2007; (3)
  • 3 Gava I, Barbui C, Aguglia E et al. Psychological treatments versus treatment as usual for obsessive compulsive disorder (OCD). Cochrane Database Syst Rev 2007; (2)
  • 4 Hay PP, Bacaltchuk J, Stefano S et al. Psychological treatments for bulimia nervosa and binging. Cochrane Database Syst Rev 2009; (4)
  • 5 Gould RA, Buckminster S, Pollack MH et al. Cognitive-behavioral and pharmacological treatment for social phobia: A meta-analysis. Clin Psychol 1997; 4: 291-306
  • 6 Mitte K. Meta-analysis of cognitive-behavioral treatment for generalized anxiety disorder: A comparison with pharmacotherapy. Psychol Bull 2005; 131: 785-795
  • 7 Mitte K. A meta-analysis of the efficacy of psych- and pharmacotherapy in panic disorder with and without agoraphobia. J Affect Disord 2005; 88: 27-45
  • 8 Keller MB, McCullough JP, Klein DN et al. A comparison of nefazodone, the cognitive behavioral-analysis system of psychotherapy, and their combination for the treatment of chronic depression. N Engl J Med 2000; 342: 1462-1470
  • 9 Nemeroff CB, Heim CM, Thase ME et al. Differential responses to psychotherapy versus pharmacotherapy in patients with chronic forms of major depression and childhood trauma. Proc Natl Acad Sci 2003; 100: 14293-14296

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