Patientensicherheit | 30. März 2015
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Medikamenten-Missgriffe meiden

Fehler im Umgang mit Arzneimitteln können grosse Schäden anrichten. Das Spital Interlaken prüft mit acht anderen Kliniken aus der Schweiz für zwei Jahre ein neues System, das die Medikamentendokumentation besser strukturieren soll. Danach soll das Gelernte möglichst weit auf das vernetzte Gesundheitswesen angewandt werden.
von Markus Kestenholz
Wenn Packungen und Pillen gleich aussehen, lauern Fehler bei jedem Handgriff.
Wenn Packungen und Pillen gleich aussehen, lauern Fehler bei jedem Handgriff.Foto: www.patientensicherheit.ch

Es braucht nicht viel mehr als einen kleinen Schreibfehler in der Krankenakte oder ein falsch verstandenes Wort. Dazu kommen Stresssituationen und lückenhafte Dokumentationen ohne einheitliches System: Wenn Medikamente falsch eingenommen werden, kann schnell alles schief gehen. Medikamentenfehler sind ein Dauerthema in medizinischen Berufen und verursachen laut einer Medienmitteilung der Stiftung Patientensicherheit Schweiz rund 20'000 Spitalaufenthalte pro Jahr. So weist jeder zweite Klinik-Eintritt gemäss Literatur Unstimmigkeiten auf, die meist durch Kontrollen entdeckt und korrigiert werden können.

Beim Eintritt fängt die Misere an

Patientensicherheit Schweiz hat jetzt das Pilotprojekt «progress! Sichere Medikation an Schnittstellen» lanciert, das zum Ziel hat, das Problem direkt an seinem Kern zu packen: Besonders beim Ein- und Austritt in die Kliniken passieren die Fehler im Umgang und bei der Abgabe von Medikamenten, eine einheitliche Vorgehensweise fehlt bisher. Neun Spitäler in der ganzen Schweiz machen beim Versuch der Vereinheitlichung mit, darunter auch das Spital Interlaken. Das Projekt bietet Vorlagen und Hilfestellungen dazu, wie das Patientendossier geführt werden sollte. Enea Martinelli, Chefapotheker am Spital Interlaken, bestätigte der Redaktion gegenüber den Quell des Problems: «Der Eintritt ist das Nadelöhr. Dort muss angesetzt werden, denn wenn dort Fehler passieren, pflanzt sich das Problem durch den ganzen Aufenthalt immer wieder fort.» Nach zwei Jahren werde Bilanz gezogen, und wenn sich das System bewährt habe, eine Erweiterung des Systems auf einen möglichst grossen Teil des Gesundheitswesens angepeilt.

Ein Zwanzigstel betroffen

In der Schweiz fanden im Jahr 2013 fast 100 Millionen Medikamentenbezüge statt. Dies steht im Helsana-Arzneimittelbericht 2014. Weiter gab jeder zwanzigste Schweizer in einer internationalen Erhebung an, in den letzten zwei Jahren mindestens einmal ein falsches Medikament oder eine falsche Dosis erhalten zu haben. «progress! Sichere Medikation an Schnittstellen» basiert auf Erkenntnissen aus Kanada, anderen europäischen Ländern und den USA und wird im Rahmen der nationalen Qualitätsstrategie des Bundes durchgeführt.

Nachgefragt bei Enea Martinelli, Chefapotheker Spital Interlaken
Enea Martinelli, dreht sich das Pilotprojekt um die Vermeidung von Routinefehlern?

Enea Martinelli: Es geht nicht so sehr um Flüchtigkeit als darum, Struktur in das Ganze zu bringen. Spitalintern haben wir mit der elektronischen Krankengeschichte ein sehr gutes System in der fmi Spitäler AG. Rund 70 Prozent unserer Eintritte finden ungeplant über die Notfallstation statt. Genau dort an dieser Schnittstelle liegt meistens das Problem, dass wir nicht genau wissen, welche Medikamente im Spiel sind. Wenn der Eintritt geplant ist, sind die Informationen meist gut.

Braucht das Projekt denn nicht noch mehr der oft wertvollen Zeit auf den Stationen?

Am Anfang sicherlich, aber bereits im Verlauf der zwei Jahre wird die Zeit wieder eingespart. Es braucht natürlich eine Einführungszeit, dafür steigt dann die Sicherheit.

Wie viel glaubwürdiger ist denn die neue Dokumentation?

Es handelt sich um eine umfassende Befragung, keine neue Dokumentation. Man hat oft mehrere Ärzte neben dem Hausarzt, beispielsweise Gynäkologen oder Psychiater, die möglicherweise Medikamente verschreiben aber nichts voneinander wissen. Im Projekt wird die Medikation an mindestens zwei Quellen abgeglichen. Ob, wie und in welchem Umfang das Pilotprojekt auf grössere Kreise ausgedehnt werden kann, werden wir in zwei Jahren wissen.

Pilotprojekt «progress! Sichere Medikation an Schnittstellen»

www.patientensicherheit.ch

Dauer: März 2015 bis Ende 2016

Teilnehmende Spitäler: Bethesda Spital AG Basel; Kantonsspital Baselland, Standort Bruderholz; Centre Hospitalier Universitaire Vaudois; Spitäler fmi AG, Spital Interlaken; Ente Ospedaliero Cantonale, sede Ospedale Regionale di Mendrisio; Spitäler Schaffhausen; SRO AG; Hôpitaux Universitaires de Genève, Zuger Kantonsspital AG