Für ein freiheitliches Gesundheitswesen

Mit der Aufhebung des Vertragszwangs sollte im Schweizer Gesundheitssektor der Startschuss für eine grundlegende Liberalisierung gegeben werden.

Werner Enz
Drucken
Das schweizerische Gesundheitswesen ist Spitze, doch die Kosten sind es auch. (Bild: Karin Hofer / Keystone)

Das schweizerische Gesundheitswesen ist Spitze, doch die Kosten sind es auch. (Bild: Karin Hofer / Keystone)

Die Schweiz mag ein im internationalen Vergleich erstklassiges Gesundheitssystem haben, wenn es um die Leistungen geht. Aber die Medaille hat eine Kehrseite: Jahr für Jahr steigt der Anteil der Gesundheitskosten, wenn sie in Bezug zur Wirtschaftsleistung gesetzt werden, als ob das eine gottgegebene Gesetzmässigkeit wäre. Nach jüngsten Schätzungen der Konjunkturforschungsstelle der ETH werden die Ausgaben für Gesundheit im Jahr 2017 mit 80 Mrd. Fr. bereits 13% des Bruttoinlandprodukts absorbieren; im Jahr 1996, als das Krankenversicherungsgesetz (KVG) in Kraft trat, waren es mit unter 40 Mrd. Fr. noch weniger als 9% gewesen.

Ein Wettbewerbskiller

In seiner Auslegeordnung zu gesundheitspolitischen Prioritäten («Gesundheit 2020») konstatiert der schweizerische Bundesrat, die Wahrscheinlichkeit steige, dass eines Tages radikalere Massnahmen zur Einschränkung der Leistungen oder zur Differenzierung der Prämiensätze mehrheitsfähig würden. Tatsächlich muss der Trend zu stark steigenden Gesundheitskosten bald gebrochen werden, denn die Menschen haben noch viele andere Bedürfnisse, die auch gedeckt sein wollen.

Dass fast jeder dritte Prämienzahler inzwischen durch den Steuerzahler mit jährlich über 4 Mrd. Fr. subventioniert wird, deutet auf überschrittene Grenzen der Finanzierbarkeit und auf einen weitverbreiteten Missstand hin. Es ist allen klar, für Jungfamilien mit einem unterdurchschnittlichen Jahreseinkommen strapazieren die Krankenkassenprämien das Haushaltsbudget in einem ungesunden Mass.

Offensichtlich läuft im Dreieck Patient - Krankenkasse - Arzt, Spitäler nicht alles rund. Eine Crux liegt darin, dass einerseits objektiv gegebene kostentreibende Effekte wie Alterung der Gesellschaft und (zum Teil) medizinischer Fortschritt am Werk sind, gleichzeitig aber auch Überversorgung, ineffiziente Betriebsabläufe, unsinnige Nutzenmaximierung von Patienten, das Aufblähen des planwirtschaftlichen Apparats generell oder gar ungebührliches Sichaneignen öffentlicher Finanzen durch überflüssige Akteure mit im Spiel sind.

Ein erster ernüchternder Befund lautet, dass weder die Ärzte, die Spitäler noch zahlende Krankenkassen anhand einer Kostenstellenrechnung genau eruieren würden oder nur schon könnten, ob eine Leistung effizient oder ineffizient erbracht wird. Es fehlt dazu an Anreizen. Ökonomen würden die Diagnose abgeben, im Gesundheitswesen werde die Nachfrage vom Angebot bestimmt – und nicht umgekehrt. Ein Beispiel für Mittelverschwendung ist die Billigung übersetzter, veraltet-administrierter Tarife für effiziente, neue Behandlungsmethoden (etwa von Augenärzten eingesetzte Lasertechnik).

Die amerikanischen Ökonomen Robert Kaplan und Michael Porter* sind in Amerika, wo der Gesundheitssektor inzwischen für 17% des BIP steht, der sehr zentralen Effizienz-Frage nachgegangen. Ihre Schlussfolgerung: Das Rechnungswesen sei meistens stark unterentwickelt – mit desaströsen Konsequenzen, denn wenn etwas nicht gemessen werden könne, könne es auch nicht verbessert werden. Konkret würde man Transparenz über die involvierten Kosten dank lückenlos erstellten Patientendossiers gewinnen.

Doch es fehlt am Interesse an Kostentransparenz. Das ist verständlich, denn letztlich wird im Rahmen des KVG-Leistungskatalogs (fast) jede Rechnung bezahlt, wobei zulässige Tarife auch behördlich vorgegeben werden. Aus der Landwirtschaft ist bestens bekannt, was eine Absatzgarantie zu einem bestimmten Preis bewirkt – Überproduktion. Es besteht denn auch breiter Konsens, dass mit dem KVG 1996 eine Kostenlawine in Gang gesetzt wurde, die trotz der Einführung einiger wettbewerblicher Elemente (Fallpauschalen; Franchisen; Tarmed-Tarif) fast ungebremst zu Tale donnert.

Unternehmerische Kassen

Damit der Wettbewerb – wie in anderen Wirtschaftszweigen oder selbst in obligatorischen Sozialversicherungen – wiederaufleben kann, braucht es einen radikalen Schritt: Der Vertragszwang sollte aufgehoben werden. Kassen müssen mit anderen Worten von der Auflage befreit werden, jeden Leistungserbringer als Vertragspartner zu akzeptieren. Umgekehrt kann keinem Arzt oder Spital eine Kooperation mit jeder Krankenkasse vorgeschrieben werden. Es gibt bekanntlich auch Krankenversicherungen, die wegen ungenügender Qualität oder wegen übersetzter Saläre für negative Schlagzeilen sorgten.

Einer der Irrtümer schweizerischer Gesundheitspolitik liegt in der Annahme, mit dem Verbot von Gewinnstreben in der Grundversicherung ein Rezept gegen die ausufernde Kostenentwicklung gefunden zu haben. Es gilt eher das Gegenteil: Würden Krankenkassen, befreit vom Vertragszwang, auch mit Aussicht auf Gewinn neue Angebote entwickeln, entstünde ein echter Leistungswettbewerb. Das Innovationspotenzial (Stichworte: Digitalisierung; E-Health) ist enorm. Ebenso wichtig ist es, ungenügende Leistungserbringer unter Druck zu setzen, damit sie schneller und auch besser arbeiten.

Gewiss sind viele Ärzte für einen derartigen Ansatz nicht zu begeistern, doch müssen auch sie anerkennen, dass die Zahlungsbereitschaft der Patienten und Kassen Grenzen hat. Ein gegenüber heute kräftig entschlackter KVG-Leistungskatalog ist sozialpolitisch ein Muss. Über eine im Obligatorium abgesicherte Grundversorgung und eine wirkungsvolle Aufsicht hinaus hat der Staat in einem freiheitlichen Gesundheitswesen nichts verloren. Zweifellos äussert sich die Politik zum Umfang des Leistungskatalogs, wobei aus liberaler Sicht einerseits an die Solidarität (etwa bei lebensbedrohenden Krankheiten) und anderseits an die Selbstverantwortung (beim Lebensstil) zu appellieren ist. Die bis anhin entwickelten Franchise-Modelle und der Selbstbehalt sind Schritte zur Stärkung der Eigeninitiative, die ins Zentrum zu rücken ist.

Mit der mehrmals erfolgten Ablehnung der Einheitskasse hat der Schweizer Souverän klargemacht, dass er Angebotsvielfalt und Wettbewerb unter Krankenkassen wünscht. Das ist ein gesunder Ansatz, den es zu fördern gilt. Es braucht neue Ideen, mehr Produkte-Angebote, mehr Wettbewerb unter Kassen, mehr Bewegungsspielraum bei der Tarifierung (risikogerechte Prämiensätze statt Einheitsprämien) – auch um das Gesundheitsbewusstsein von Kunden fördern und belohnen sowie schwarze Schafe bestrafen zu können. Wer nicht selbstverschuldet krank wird oder einen Unfall erleidet, soll nicht noch durch Simulanten und «System-Optimierer» geplagt werden. Selbstverantwortung sowie Anreize für Prävention und die Früherkennung von Krankheiten sind ebenfalls zu stärken.

Kantone mit zu vielen Hüten

Eine nennenswerte Reform des Schweizer Gesundheitswesens führt zwingend dazu, tradierte Rollen der Kantone zu hinterfragen. Deren Interessenkonflikte sind offensichtlich, denn Kantone sind als Finanzierer, als Regulierer (u. a. Genehmigung von Leistungserbringern), Besitzer, Planer wie auch Betreiber von eigenen Spitälern aktiv. Die Kumulation von Aufgaben führt dazu, dass «ein Gesundheitsdirektor» – per se schon eine ziemlich anmassende Bezeichnung – viel Macht ausübt. Ob eine bestimmte Person dies geniesst oder eher als Belastung empfindet, bleibe dahingestellt.

Jedenfalls stehen Gesundheitsdirektorenkonferenzen, also das Stelldichein kantonaler Gesundheitsdirektoren, für eine planwirtschaftliche Veranstaltung, wie sie den Schweizern im Geschäftsverkehr sonst fremd ist. Hiermit steht und fällt vieles mit der Frage, ob eine sinnvolle Entflechtung und Selbstbescheidung des Staats auch auf kantonaler Ebene gelingen wird. Möglicherweise werden liberal gesinnte Kantone vorangehen – oder auch jene, die von steuerlicher Seite her dereinst als erste an finanzielle Grenzen stossen werden.

* Robert Kaplan and Michael Porter: The Big Idea: How to Solve the Cost Crisis in Health Care.