Die Bremser in Weiss

Laufend kommen neue Gesundheits-Apps auf den Markt. Im klinischen Bereich verläuft die Digitalisierung hingegen nur schleppend – innovative Unternehmer haben einen schweren Stand.

Jürg Müller
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Die von Freizeitsportlern freiwillig erhobenen Bewegungs- und Verhaltensdaten sind die Basis für neue Geschäftsmodelle im Gesundheitsbereich. (Bild: Wong Maye / AP)

Die von Freizeitsportlern freiwillig erhobenen Bewegungs- und Verhaltensdaten sind die Basis für neue Geschäftsmodelle im Gesundheitsbereich. (Bild: Wong Maye / AP)

«Wenn die Ärzte nicht dabei sind, kann man es vergessen», das meint Tobias Mettler nicht etwa zu einer medizinischen Behandlung, sondern zu den Erfolgschancen einer Firma auf dem stetig wachsenden Markt für E-Health-Lösungen. Mettler ist Professor an der Universität St. Gallen und Leiter des Kompetenzzentrums Health Network Engineering. Laut ihm müssten im Gesundheitswesen mehr als in anderen Bereichen diverse Anspruchsgruppen beachtet werden. Neben den Hausärzten reden auch Spitäler, Krankenkassen, Patienten und nicht zuletzt staatliche Stellen mit, wobei auch noch föderale Strukturen beachtet werden müssen – alles Faktoren, die innovativen Firmen nicht gerade entgegenkommen.

Das Ausland eilt davon

Grundsätzlich böte der hiesige Gesundheitsmarkt E-Health-Anbietern vielfältige Möglichkeiten. Allerdings scheint im Gegensatz zu konsumnahen Lösungen (vgl. Artikel rechts) im klinischen Bereich der Wurm drin zu sein. So meint Stefano Santinelli, Leiter des Bereichs Health bei Swisscom, dass die Digitalisierung des Gesundheitswesens in der Schweiz nur schleppend vorankomme. Sowohl im internationalen Vergleich als auch gegenüber anderen Branchen hätten die neuen Technologien einen besonders schweren Stand.

Santinelli legt während des Gesprächs einen dicken Stapel Papier auf den Tisch. Dies sei nur ein Teil der Spezifikationen für digitale Anwendungen im Gesundheitsbereich, die im Rahmen des Bundesgesetzes über das elektronische Patientendossier erarbeitet wurden. Es sei klar, dass eine Standardisierung notwendig sei, aber derzeit scheine es ihm, als würde viel zu detailliert reguliert. Beim derzeitigen Tempo werde es noch Jahre dauern, bis eine digitale Patientenakte flächendeckend eingeführt werde.

Dass es auch anders geht, zeigen Beispiele aus dem Ausland. In den USA wurde laut Mettler die Digitalisierung mit einer Politik von Zuckerbrot und Peitsche rasant vorangetrieben. Dabei wurden in einer ersten Phase Ärzte belohnt, wenn sie ein elektronisches Patientendossier einführten. Später wurde die Belohnung dann von einer Bestrafung für jene Ärzte abgelöst, die noch immer der Papierakte verhaftet blieben.

Auch in Europa gibt es Länder, die der Schweiz weit voraus sind. In Dänemark verwendeten beispielsweise bereits vergangenes Jahr 99% aller zugelassenen Hausärzte eine elektronische Patientenakte, und 85% aller Medikamenten-Verschreibungen wurden in digitaler Form an die Apotheken gesendet. Interessant ist auch, dass gewisse Länder grossen Wert auf Transparenz bei den Leistungsträgern legen – laut Mettler beispielsweise Israel. Die digitale Erfassung von Gesundheitsdaten erlaubt nicht nur eine Effizienzsteigerung, sondern auch die konsequente Qualitätskontrolle von Spitälern und Ärzten: Bei welchem Spital gab es wie viele Komplikationen nach welcher Behandlung, solche Fragen können in einem digitalisierten Gesundheitswesen auf Knopfdruck beantwortet werden.

Schwindender Rückhalt

In der Schweiz stösst der Ruf nach mehr Transparenz durch Digitalisierung derweil auf wenig Gehör. Dass sich die Leistungsträger für eine permanente Qualitätskontrolle nicht erwärmen, liegt auf der Hand. Doch auch in der Bevölkerung schwindet die Unterstützung für die Digitalisierung des Gesundheitswesens. So hat das elektronische Patientendossier in den vergangenen Jahren an Popularität eingebüsst (vgl. Grafik). Dies dürfte wohl nicht zuletzt eine Folge der Snowden-Enthüllungen sein, die das Vertrauen in die Integrität digitaler Systeme nachhaltig geschwächt haben.

Auch wenn das elektronische Patientendossier hierzulande wohl noch lange Zeit Zukunftsmusik bleiben wird, tut sich in anderen Bereichen durchaus etwas. Santinelli lässt sich gar zu der Aussage hinreissen, dass in der Schweiz in den vergangenen sechs Monaten beim Thema E-Health mehr gegangen sei als in den vorhergehenden sechs Jahren. Besonders bei der Vernetzung würden derzeit rasant Fortschritte erzielt. Er prognostiziert optimistisch, dass bis 2020 die Hälfte der Leistungserbringer auf einen digitalen Dokumentenaustausch umstellen wird. Dies bedeutet, dass beispielsweise Röntgenbilder oder Überweisungen vom Hausarzt an ein Spital elektronisch erfolgen – derzeit werden laut Swisscom in der Schweiz noch jährlich 250 Mio. Papierdokumente verschickt.

Bei der Digitalisierung der Vernetzung dürfte es so rasch vorangehen, weil die Anreize der verschiedenen Akteure gleichgerichtet sind. Sowohl Spitäler als auch Hausärzte können unmittelbar Kosten sparen, wenn sie sich auf einen digitalen Dokumentenaustausch einigen. Bei der elektronischen Patientenakte ist dies hingegen nicht der Fall.

Die Digitalisierung der Patientendaten kostet einen Hausarzt zunächst Zeit und Geld, die Vorteile stellen sich erst später ein. Sofort einen Nutzen daraus zieht hingegen der Patient in Form einer besseren Behandlung, da Spezialisten und behandelnde Ärzte im Spital einfacher Einsicht in die gesamte Krankengeschichte erhalten; von anonymen digitalisierten Patientendaten würde zudem die Forschung profitieren. Laut Mettler zeigen unzählige Studien, dass ein elektronisches Patientendossier grosse Einsparungen im Gesundheitswesen ermöglicht.

Lukrative Geschäftsfelder

Als einzelne Firma kann man gegen vorherrschende Anreizstrukturen wenig ausrichten. Neue Lösungen werden daher mit Vorteil in Bereichen entwickelt, die ein grosses wirtschaftliches Potenzial aufweisen und in denen man nicht gegen Widerstände einzelner Interessengruppen ankämpfen muss. Ein solches Geschäftsfeld identifiziert Santinelli bei der Prävention von sogenannten Gesellschaftskrankheiten.

Das Problem des Übergewichts hat sich beispielsweise in den vergangenen Jahren akzentuiert (vgl. Grafik). Die Kosten für das Gesundheitswesen gehen dabei laut dem Bundesamt für Gesundheit in die Milliarden. Santinelli ist überzeugt, dass mit digitalen Produkten wie etwa mobilen Applikationen für eine gesunde Ernährung und mehr Bewegung dieses Problem zu mildern wäre, ohne dass sich einzelne Interessengruppen querstellen würden.

Solche direkt an die Patienten gerichtete E-Health-Lösungen entfalteten laut Mettler allerdings erst dann ihr volles Potenzial, wenn sie mit den klinischen Systemen verbunden würden. Der behandelnde Arzt erhielte dadurch zusätzliche Informationen zum Patienten, der wiederum von Informationen aus dem klinischen Bereich profitieren könnte. Diese E-Health-Vision dürfte jedoch nur dann in Erfüllung gehen, wenn auch die Ärzte mehr Anreize zur Digitalisierung haben.

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