Gastkommentar

Berufsidentität ohne starre Grenzen

Was ist falsch daran, wenn eine Hebamme Ultraschalluntersuchungen durchführt? Die starren Grenzen zwischen den Gesundheitsberufen sind nicht mehr sinnvoll.

Andreas Gerber-Grote
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Hebamme, Psychologe, Ärztin oder Apotheker: Obwohl diese Berufe alle im Gesundheitssektor angesiedelt sind, werden zwischen ihnen bis heute klare Linien gezogen nach dem Motto: Jedem Beruf seine Ausbildung, seine Identität, sein Gärtchen.

In der Praxis sieht das in den meisten Fällen wie folgt aus: Der Arzt verschreibt zwar Ergotherapie, versteht aber nicht so ganz, was dort mit «seinem» Patienten gemacht wird. Oder: Morgens kommt der Pflegefachmann, nachmittags die Physiotherapeutin zu derselben Patientin, ohne dass sich die beiden über das jeweils Beobachtete verständigen, um einen gemeinsamen Therapieansatz zu entwickeln. Als ich der Präsidentin einer Bildungseinrichtung neulich vorschlug, Hebammen auch Ultraschalluntersuchungen machen zu lassen, entgegnete sie mir, dass dies doch eine ärztliche Tätigkeit sei. Doch: Was ist eine – genuin – ärztliche Tätigkeit?

Intensivstation des Triemli-Spitals in Zürich. (Bild: Simon Tanner / NZZ)

Intensivstation des Triemli-Spitals in Zürich. (Bild: Simon Tanner / NZZ)

Abgesehen davon, dass es in der Praxis häufig an Austausch mangelt, stellt sich die Frage: Sind die klaren Grenzen zwischen den Gesundheitsberufen sinnvoll? Haben sich die Aufgabenspektren nicht immer wieder neuen Gegebenheiten angepasst? Im Wallis der 1940er Jahre etwa machte die freischaffende Hebamme Adeline Favre die Entwicklung von der Haus- zur Spitalgeburt mit. Sie konnte die Geburten nicht mehr alleine leiten, sondern hatte sich in ein neues System mit Ärzten einzuordnen. Dafür musste sie umfassendere Anamnesen machen und sich an neue Geräte zur Überwachung von Herztönen und Wehen gewöhnen.

Auch der Blick in die Gesundheitssysteme anderer Länder zeigt abweichende Zuschnitte von Berufsprofilen. In den USA gibt es zum Beispiel «respiratorists» oder «nurse practitioners» mit Aufgaben, die bei uns klassisch der Ärzteschaft zugeordnet sind.

Auch die «rehabilitation nurse» ist hierzulande unbekannt, eine Kombination aus Ergotherapeutin, Physiotherapeutin und Pflegefachfrau. Ich selbst habe als Medizinstudent die Erfahrung gemacht, dass im selben Spital auf der einen Station die Pflege die Wundversorgung machte, während auf der anderen die Ärzte dafür zuständig waren. Eine fest umrissene Berufsidentität scheint bestenfalls eine Momentaufnahme zu sein.

2011 hat sich die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) zur Frage der Berufsidentität programmatisch geäussert. Im Positionspapier «Die zukünftigen Berufsbilder von Ärzt(inn)en und Pflegenden» hält sie fest, dass die Zusammenarbeit der Berufsgruppen mit zunehmend komplexen Behandlungen immer mehr zum Erfolgsfaktor werde. Die Aufgabenverteilung orientiere sich künftig weniger an hierarchischen, ständisch definierten oder mit formellen Titeln verbundenen Kriterien als daran, wer über die notwendigen Kompetenzen verfüge.

Berufsidentität ohne Interprofessionalität ist heute nicht mehr denkbar, beziehungsweise Interprofessionalität ist angesichts der heutigen Herausforderungen genuiner Bestandteil jeder Berufsidentität.

Der vielzitierte Fachkräftemangel zwingt uns, starre Berufsbilder aufzulösen und neue Profile für spezifische Aufgaben zu entwickeln.

Eine dieser Herausforderungen ist der vielzitierte Fachkräftemangel, den ich für die Interprofessionalität auch als Chance sehe. Er zwingt uns, starre Berufsbilder aufzulösen und neue Profile für spezifische Aufgaben zu entwickeln. Diese Tendenz zeigt sich bereits in den USA und in Grossbritannien, aber auch in unserer Zusammenarbeit mit dem Kantonsspital Winterthur, wo seit einiger Zeit beispielsweise speziell geschulte Pflegefachpersonen für die Ein- und Austrittsverordnungen zuständig sind.

In Zeiten der Ressourcenknappheit ist Interprofessionalität Ausdruck eines effizienten Einsatzes von Personal und Mitteln. Weshalb kann in einem abgelegenen Bergtal nicht auch ein Physiotherapeut eine Grunduntersuchung machen oder eine sogenannte «advanced practice nurse» Patienten mit Diabetes versorgen? Was ist falsch daran, wenn eine Hebamme Ultraschalluntersuchungen durchführt, Geburten leitet und im Notfall eine ärztliche Kollegin dazuruft?

Mit den sich wandelnden Kompetenzen, die das Gesundheitswesen in Zukunft braucht, werden sich auch die Gesundheitsberufe wandeln und mit ihnen die Aus- und Weiterbildung. Bereits heute besuchen angehende Hebammen und Pflegefachmänner, Ergo- und Physiotherapeutinnen während ihres Studiums bei uns interprofessionelle Module, in denen sie mit-, von- und übereinander lernen.

Gleichzeitig bieten wir Weiterbildungen an, die sich an Angehörige unterschiedlicher Professionen richten. Diese Entwicklung wird sich fortsetzen und – so hoffe ich – verstärkt auch Ärztinnen, Psychologen und Pharmazeutinnen einbeziehen.

Andreas Gerber-Grote, Mediziner und Gesundheitsökonom, ist Direktor des Departements Gesundheit der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW).