Für jedes Zäpfchen ins Krankenhaus – Seite 1

Ist der Junge wirklich ein Notfall? Sonntagnachmittag in der Notaufnahme der Kinderklinik in Hamburg-Eppendorf, das Wartezimmer ist bis zum letzten Stuhl besetzt, im Behandlungszimmer sitzt ein schlapper Fünfjähriger auf dem Schoß seiner besorgten Mutter. Seit drei Tagen habe er nichts mehr gegessen, vorgestern habe er Fieber bekommen, "es ist direkt auf 40 hochgeschnellt und seitdem nicht mehr runtergegangen, obwohl wir Wadenwickel gemacht haben", sagt die Mutter. Im Kopf des Arztes rattert es bereits, er hat verschiedene Infektionskrankheiten im Kopf, aber erst eine gründliche Untersuchung und ein Abhören von Lunge und Herz bringt Gewissheit: keine Lungenentzündung, auch keine sonstigen Anzeichen für eine lebensbedrohliche Situation. Kein Notfall. 

Der Arzt könnte das Gespräch jetzt beenden und Mutter und Kind bitten, sich an den Notdienst der niedergelassenen Kinderärzte zu wenden, der für Fälle wie diesen eigentlich zuständig ist. Seit dem 1. April würde seine Klinik dafür 4,74 Euro kassieren, nachts gäbe es sogar 8,42 Euro. Diese Beträge zahlen die Krankenkassen den Krankenhäusern für jeden Patienten, den ihre Mediziner zu den diensthabenden niedergelassenen Ärzten schicken. Denn vor allem in Großstädten klagen viele Kliniken über volle Notaufnahmen mit Menschen, die eigentlich nicht akut behandelt werden müssen.

Patienten sortieren ab 4,74 Euro

Um überhaupt beurteilen zu können, ob ein Notfall vorliegt oder nicht, muss ein Arzt den Patienten sehen. "Und wenn man sich einen Patienten schon angesehen hat, der häufig auch noch länger gewartet hat, dann kann man schlecht sagen: 'Das ist nicht dringlich genug für das Krankenhaus, gehen Sie bitte zum Notdienst der niedergelassenen Kinderärzte, dort werden Sie behandelt.' Das geht in der Praxis einfach nicht", sagt Marcel du Moulin, Facharzt an der Kinderklinik des Uniklinikums Hamburg-Eppendorf.

Ein Arzt wird sich um Fälle wie etwa den fünfjährigen Jungen wohl eher selbst weiter kümmern. Er würde ein Zäpfchen geben, um das Fieber zu senken, dann würde er sich die Zeit nehmen, um mit der Mutter das weitere Vorgehen zu besprechen: viel Trinken, Bettruhe zu Hause, und wenn am Montag das Fieber immer noch so hoch ist, in die Kinderarztpraxis gehen. 

Ist die Abklärungspauschale also ein Reinfall? Immerhin visiert sie ein zentrales Problem des Gesundheitssystems an, eines, das seinen Anfang nimmt, noch bevor ein Patient das Haus verlässt. Es beginnt im Kopf, mit der Entscheidung, wohin man sich wendet für medizinische Hilfe.

Wer sich unwohl fühlt, soll 116117 anrufen

Viele Menschen gehen am Wochenende und abends bei Beschwerden wie selbstverständlich in die Notaufnahme des nächsten Krankenhauses. Dabei sieht das Gesundheitssystem etwas anderes vor: Wer sich unwohl fühlt, sollte sich an den Notdienst der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) wenden. Dieser Dienst, der von den niedergelassenen Ärzten gestellt wird, kann in Arztpraxen oder dafür vorgesehenen Zentren untergebracht sein. Das variiert regional. Er kann auch aus mobilen Ärzten bestehen, die mit Autos zum Patienten kommen, wie es etwa in Berlin der Fall ist. Zu erreichen ist dieser Notdienst bundesweit unter der Rufnummer 116117. Hier erfährt der Patient unter anderem, wo der nächste niedergelassene Arzt in seiner Umgebung gerade zu erreichen ist. 

Zwar wird der Notdienst der KV von einigen Patienten regelmäßig genutzt, aber es gibt eben auch viele Menschen, die direkt in die nächste Notaufnahme gehen und dort auch behandelt werden wollen. Vor allem unter jungen Menschen ist dieser Anteil hoch, zeigen Studien. "Eine mögliche Erklärung ist, dass junge Menschen über das Internet eine Art Alles-jetzt-sofort-Mentalität erlernt haben, sodass man sich gleich an die für alle Fälle ausgestattete Klinik wendet", sagt Martin Albrecht, Geschäftsführer des IGES Instituts, eines unabhängigen Forschungs- und Beratungsinstituts in Gesundheitsfragen.

Vor allem in den Großstädten sind die Notaufnahmen daher regelmäßig überfüllt. So stehen ähnlich wie in der Kinderklinik in Hamburg auch in der Ambulanz der Berliner Charité meist die Patienten Schlange. "Sicher gibt es einige Patienten, die kein Notfall im engeren Sinne sind. Aber das können wir ja erst sicher sagen, wenn wir sie gesehen und diagnostiziert haben", sagt Martin Möckel, Ärztlicher Leiter der dortigen Notfallmedizin. "Oft kann man erst Entwarnung geben, wenn man einen Ultraschall gemacht hat oder ein Röntgenbild, und dann braucht es häufig auch noch Konsultationen mit Fachärzten. Das alles steht dem niedergelassenen Arzt im Notdienst nicht zur Verfügung."

"Es ist ein Verlustgeschäft"

Kliniken haben also in einigen Fällen tatsächlich die besseren Kapazitäten, um den Zustand eines Patienten abzuklären. Doch dafür werden sie nach Ansicht von Möckel oft nicht entsprechend bezahlt: "Ein Röntgenbild zum Beispiel wird honoriert, als entstünde es unter der Woche, wo ein Radiologe zahlreiche Bilder in der Stunde macht. Nachts aber kommt er gerade einmal auf ein oder zwei Bilder pro Stunde. Das rechnet sich bei dem gleichen Honorar nicht mehr, im Gegenteil, es ist ein Verlustgeschäft."

Ebenso kritisieren viele Kliniken auch die Abklärungspauschale als deutlich zu niedrig. "Sie ist nicht grundsätzlich falsch, es gibt durchaus Patienten, unter denen man sie anwenden kann", sagt Georg Baum, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG). Das Honorar sei nur deutlich zu niedrig. "So stehen gerade einmal zwei Minuten zur Verfügung. In dieser Zeit soll die verwaltungsmäßige Erfassung der Patienten stattfinden und ein Mediziner Zeit haben, um eine Diagnose zu stellen, die medizinisch korrekt und auch rechtssicher ist – das ist nicht hinnehmbar." In einem offenen Brief an den Gesundheitsausschuss des Bundestages fordert Baum daher, die Pauschale um zehn Euro zu erhöhen.

So stehen gerade einmal zwei Minuten zur Verfügung. In dieser Zeit soll die verwaltungsmäßige Erfassung der Patienten stattfinden und ein Mediziner Zeit haben, um eine Diagnose zu stellen.
Georg Baum, Hauptgeschäftsführer DKG

"Die Abklärungspauschale ist angemessen. Und wenn der Arzt nicht auf Anhieb sicher weiß, ob kein Notfall vorliegt, dann behält er den Patienten selbstverständlich wie zuvor zur Behandlung da", sagt Roland Stahl von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Kommt aber jemand beispielsweise in die Notaufnahme, weil er sich Fäden ziehen lassen will, wäre das ein typischer Fall, in dem die Abklärungspauschale greifen würde. "Es wird nun vergütet, was vorher auch schon geschehen ist, nämlich die Abklärung, ob jemand ein Notfall ist oder nicht", sagt Stahl.

Damit sei die Pauschale eine sinnvolle Ergänzung zu anderen, zeitgleich eingeführten Änderungen, in denen die Honorierung zugunsten der Kliniken verbessert wurde. "Es gibt jetzt für Notfallbehandlungen zusätzlich verschiedene Schweregradzuschläge, wenn die Patienten entsprechende Krankheitsprofile haben oder etwa eine eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit", sagt Stahl. Doch der Umfang der Änderungen ist den Kliniken noch zu wenig. "Das Problem, dass zu viele Patienten in die Klinik kommen, dürfte mit der Abklärungspauschale und den Honorierungsänderungen kaum entschärft werden", sagt auch Martin Albrecht vom IGES.

Notdienst und Notaufnahme zusammenbringen

Wie lässt es sich aber dann lösen? Ein vielversprechender Ansatz wird in einigen Kliniken und Regionen in Deutschland bereits erfolgreich praktiziert: Der ärztliche Notdienst hat seine Notfallpraxis direkt in der Klinik, diese führt ihm die Patienten, die sich in der Notaufnahme vorstellen wollen, direkt zu. Auf diese Weise bekommt jeder Patient, der in eine Klinik geht, zunächst die vom Gesundheitssystem vorgesehene Behandlung durch einen niedergelassenen Arzt, der wiederum bei einem Notfall direkt das Krankenhaus in Reichweite hat. Doch vielerorts sind solche Kooperationen noch nicht zustande gekommen, weil sie an Verhandlungen scheitern, wer die Räumlichkeiten und das nicht-ärztliche Personal stellt. Dort aber, wo es gelungen ist, wird fast nur von Erfolgen berichtet.

Denn wie so oft scheint die Lösung in einer engeren Zusammenarbeit zu liegen. Die dürfte sich als deutlich wirkungsvoller herausstellen, als im Rahmen der Abklärungspauschale dem einen Arzt einfach eine Belohnung zu geben, wenn er dem anderen Arzt einen Patienten zuschiebt.