Die Angst vor der Taxigeburt – Seite 1

Dieser Text gehört zu unserer Reportageserie Überland . Sieben Lokalreporter berichten für ZEIT ONLINE aus ihrer Region. Die Serie ist Teil unseres Pop-up-Ressorts #D17, in dem wir Deutschland Deutschland erklären wollen.

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Das Leben hat sich verabschiedet aus der Geburtsstation des St.-Vincenz-Hospitals in Menden. In der ersten Etage sind die Gänge dunkel, die Kreißsäle verschlossen, die medizinischen Geräte mit Decken abgehängt. An den Wänden sind ein paar Bilder übrig geblieben, auf denen Säuglinge Fratzen schneiden. Wo vor wenigen Wochen noch Babygeschrei zu hören war und sich Eltern im Überschwang in den Armen lagen, ist es still. Seit Ende März ist die Abteilung geschlossen. Die Mendener Geburtsstation war ein wirtschaftlicher Totalausfall.

Mirjam Ferreira-Baptista sitzt im Haus ihrer Hebamme in einer Einfamilienhaus-Siedlung in Menden, einer kleinen Gemeinde im Sauerland. Ihr blondes Haar fällt locker über ihre Schultern, sie lächelt milde, vor ihrer Brust wiegt sie Sohn Luka, der vier Wochen alt ist. Der Säugling schläft, die Mutter trinkt Tee. Es fällt ihr schwer zu berichten, was sich vor etwa zwei Monaten zugetragen hat. 

Am Aschermittwoch gab die Klinikleitung bekannt, dass die Geburtsstation zum Monatsende schließen müsse. Die Wirtschaftlichkeit sei nicht mehr gegeben, ließ die Krankenhausverwaltung mitteilen. Ferreira-Baptista war damals hochschwanger und wollte in Menden entbinden. "Mir schossen die Tränen in die Augen", sagt sie. "Ich konnte anschließend die ganze Nacht nicht schlafen." Sie erzählt von Kreißsaal Nummer eins, ein Wohlfühlraum in gedeckten Farben. Dort hatte sie selbst vor 34 Jahren ihren ersten Atemzug getan, vor drei Jahren gebar sie ihre Tochter Hannah dort. "Es ist für mich wie ein Zuhause", sagt sie. Keine Frage, dass sie auch mit ihrem nächsten Kind hier niederkommen würde.

"Ich hatte Angst davor, in ein unbekanntes Krankenhaus zu kommen", sagt Ferreira-Baptista. Sie kannte die Hebammen lange, das Vertrauensverhältnis war eng. Die Schließung sei für sie schwer zu ertragen gewesen. "Für Außenstehende mag das vielleicht zu dramatisch klingen", sagt sie, "aber eine Geburt ist der intensivste Augenblick im Leben einer Frau." Sie kann nicht verstehen, dass alles der Wirtschaftlichkeit untergeordnet werde.

Die Demütigung

Die Schließung der Geburtsstation in Menden ist zu einem Politikum geworden. Vor allem die Umstände der Entscheidung erbosten viele in der sauerländischen Gemeinde. Im Januar noch hatte der katholische Träger des Hospitals mit Verweis auf den christlichen Auftrag beteuert, er wolle an der Station festhalten. Dabei stand sie wegen ihrer negativen Bilanz von rund 500.000 Euro im Jahr schon in der Vergangenheit immer wieder auf der Kippe. Am Karnevalssonntag aber schickte die Verwaltung die Hebammen noch mal im Storchenkostüm zum Umzug: "St. Vincenz-Störche bleiben Menden treu", lautete die Botschaft. Am Aschermittwoch dann nicht mehr.

"Für uns war das eine Demütigung", sagt die Hebamme Heike Jacobs, die Ferreira-Baptista eingeladen hat. "So geht man doch mit Menschen nicht um." Zwölf Jahre hat sie in Menden Kinder zur Welt gebracht. Die Eltern hätten die intensive Betreuung und die familiäre Atmosphäre besonders geschätzt. Eine Geburt sei ein emotionales Thema. "Es geht um Ängste und um das Bedürfnis, eine persönliche Anbindung an ein nahegelegenes Haus zu haben", sagt sie. "Wir sind nicht nur ein Kostenfaktor." Einige Schwangere hätten die Hebammen sogar gefragt, ob es möglich sei, die Geburt künstlich einzuleiten, bevor die Station schließen muss.

Jacobs und ihre zwölf Kolleginnen wurden entlassen, ihr Gehalt wird noch bis September gezahlt. "Wir sind da fürs ganze Leben", lautet der Slogan der katholischen Klinik. Für die Hebammen ist dieser Satz heute nur noch "Lug und Trug", wie Jacobs es sagt.

Geburten sind nicht sehr lukrativ

Die Schließung von Geburtsabteilungen ist im ländlichen Raum Nordrhein-Westfalens ein gesellschaftspolitisches Dauerthema. Gleichzeitig mit Menden stellte die Station im 50 Kilometer entfernten Meschede die Arbeit ein. Auch in St. Augustin im Rhein-Sieg-Kreis machte kürzlich eine Geburtsstation dicht. Der Grund ist immer derselbe: fehlende Wirtschaftlichkeit.

Die Statistik zeig diesen Abwärtstrend deutlich. Ende 2000 gab es in NRW noch 232 Krankenhäuser mit Geburtsstationen, Ende 2016 waren es laut dem Gesundheitsministerium nur noch 155. Man könne die Betroffenheit der Menschen vor Ort verstehen, erklärt das Gesundheitsministerium auf Anfrage. Doch der Kostendruck auf die Krankenhausträger habe sich durch gestiegene Versicherungsprämien für Ärzte, Hebammen und Entbindungspfleger in den vergangenen Jahren deutlich erhöht. Gerade kleinere Kliniken im ländlichen Raum hätten es deshalb schwer, sich zu behaupten. Dennoch sei die Versorgungsdichte in NRW deutlich höher als in anderen Bundesländern, betont die Behörde.

Geburten sind in Deutschland kein besonders einträgliches Geschäft. Für eine normale Geburt wird etwa in NRW eine Fallpauschale von etwa 1.850 Euro abgerechnet – ganz gleich, wie lange sie dauert. Darüber, ab wann eine Geburtsstation rentabel arbeitet, gibt es unterschiedliche Zahlen. Verschiedenen Quellen zufolge sind es zwischen 800 und 1.000 Geburten jährlich. In Menden waren es zuletzt 521. 

Viele Kliniken haben mittlerweile den zweifelhaften Ruf, aus Kostengründen bevorzugt per Kaiserschnitt zu entbinden. Immerhin ist die operative Variante mit knapp 2.800 Euro pro Geburt deutlich lukrativer. Der Trend ist auch NRW-Gesundheitsministerin Barbara Steffens nicht entgangen: "Wenn nicht nur aus der Bevölkerung, sondern auch durch Hebammen und einen Teil der Ärzteschaft darauf hingewiesen wird, dass für ein Krankenhaus eine Kaiserschnittgeburt vielleicht finanziell attraktiver ist als eine natürliche Geburt, läuft auch an dieser Stelle im System etwas falsch."

Wenn es um die Lösung des Problems geht, scheint die Politik allerdings ratlos. "Was viele nicht wissen: Das Land kann die Schließung einer Krankenhausabteilung nicht verhindern", sagt das Ministerium. Das sei allein die Entscheidung des Trägers.

Der demografische Wandel stellt neue Anforderungen

Und doch lässt sich nicht alles auf die Krankenhausgesellschaften abwälzen. Im Jahr 2015 wurde die von Bund und Ländern erarbeitete Krankenhausreform verabschiedet. Sie verspricht jenen Kliniken Zuschläge, die sich spezialisieren und von anderen Häusern abheben. Fachzentren sollen eine bessere Versorgungsqualität für die Patienten bieten.

Diesen Weg will auch Menden gehen. Das Krankenhaus hat die profitabel arbeitende Innere Medizin um eine neurologische Station erweitert und will im Sommer eine Geriatrie hinzufügen – möglicherweise in den Räumen der Geburtshilfe. "Das passt zur demografischen Entwicklung und zur Bevölkerungsstruktur in Menden und Umgebung", sagt Klinik-Geschäftsführer Thomas Wülle. Mit der Hinwendung zur Altersmedizin sei die Klinik "zukunftssicher" aufgestellt. Acht Jahre habe die Geburtshilfe defizitär gearbeitet, bilanziert er. Den Zorn der Bürger könne er verstehen, die Entscheidung zur Schließung sei aber wirtschaftlich notwendig gewesen. Die Politik habe mit streng kalkulierten Ressourcen und verschärften Regelungen zu Risikoschwangerschaften diese Entwicklung begünstigt.

Wo entbinden?

Lara Beckmann spielt auf dem Wohnzimmerteppich mit ihrem 15 Monate alten Sohn Mats, ihre Freundin Kerstin Freudenreich ist zu Besuch. Die beiden Frauen, beide 29 Jahre alt, stehen kurz vor der Niederkunft und wollten eigentlich in Menden entbinden. "Das Krankenhaus hat uns werdende Mütter im Stich gelassen", sagen sie. Sie werden nach Iserlohn ausweichen müssen. Dass es keine flächendeckende Geburtshilfe mehr gibt, erschreckt die beiden Frauen. 

Wo gebären? Lara Beckmann und Kerstin Freudenreich © Monika Hanfland für ZEIT ONLINE

Wie viele Schwangere fragen sie sich: Was tun, wenn die Wehen plötzlich einsetzen und das nächste Krankenhaus eine Dreiviertelstunde entfernt ist? Muss das Kind im Auto entbunden werden, im Rettungswagen oder zu Hause ohne medizinische Versorgung? Oder im Flur einer völlig überfüllten Klinik mit zu wenig Personal? Wie viel ist der Gesundheitsindustrie ein neues Leben wert, wie viel der Politik, die immer davon spricht, dass Familie und Kinder so wichtig sind?

Das Ministerium reagiert kühl auf diese Fragen. Von den Gerüchten, dass Kinder in Taxis oder sogar auf der Straße zur Welt kommen, höre man zwar immer wieder, aber "hierfür sind uns keinerlei Belege bekannt", heißt es. Man verweist auf Skandinavien, wo schwangere Frauen zur Entbindung im Krankenhaus 100 Kilometer oder mehr zurücklegen müssten und die Säuglingssterblichkeit trotzdem geringer sei als in Deutschland.

Wie viel Fahrzeit ist zumutbar?

Eine gesetzlich geregelte Entfernungsfrist gibt es in der Bundesrepublik nicht. Der Runde Tisch Geburtshilfe hat im Herbst 2015 eine Empfehlung ausgegeben: In NRW solle jede Schwangere innerhalb von 45 Minuten eine geburtshilfliche Klinik erreichen können. Mit einer Einschränkung: Die Zeitangabe beziehe sich auf Fahrten mit dem Auto und "selbstverständlich nicht auf Fälle von extremen Wetterlagen oder Verkehrsbehinderungen".

Der Verein Mother Hood hält das nicht für ausreichend. "Bei Anfahrtswegen von mehr als 30 Minuten zur nächsten Geburtsklinik bestehen schon vor der Geburt hohe Risiken für Mutter und Kind", sagt Sprecherin Katharina Desery. Ob große Geburtszentren den Wegfall kleiner Stationen auffangen können, findet sie fraglich. Schon jetzt träfen werdende Mütter dort auf überfüllte Kreißsäle und überlastetes Personal. "Uns erreichen vielfach Berichte von Frauen, die in den Wehen an den Kreissaaltüren abgewiesen wurden oder wegen Überfüllung schlecht betreut wurden", sagt Desery.

Tränen und Unterschriften

Genau das wollen die Bürger in Menden verhindern. Und mehr noch: Für sie geht es auch um Heimat, Zusammenhalt, eine funktionierende Gemeinschaft und darum, dass es bald keine neuen gebürtigen Mendener mehr gibt. Deshalb wollen sie sich mit der Schließung der Geburtsstation nicht abfinden und leisten Widerstand.

"Mit dieser Schließung entwickeln wir uns als Gemeinde zurück", sagt Helmut Schwittay, der Anfang März auf Facebook eine Protestgruppe gegründet hat. Der 51-Jährige ist gelernter Werbekaufmann, inzwischen betreibt er ein Taxiunternehmen. Seine Tochter ist in Menden zur Welt gekommen. "Kinder sind unsere Zukunft, aber wir tun nichts dafür", kritisiert er. Eine Geburtsstation sei auch ein Wirtschaftsmotor für die Stadt. Für junge Familien, aber auch für Unternehmen, die sich niederlassen wollen, sei das ein entscheidendes Kriterium.

Helmut Schwittay und Mirko Kruschinski organisieren den Protest gegen die Schließung der Geburtsstation in Menden. © Monika Hanfland für ZEIT ONLINE

Schwittay hat Mahnwachen und Mitte März eine Demonstration durch die Stadt organisiert. Bei strömendem Regen liefen etwa 200 Teilnehmer den Berg hinauf zum Haupteingang des Hospitals. Die Hebammen schauten aus den Fenstern der Geburtsstation und weinten. Unten weinten die Demonstranten. "Sehr emotional" sei das gewesen, sagt Schwittay. Von der Krankenhausleitung habe sich niemand blicken lassen.

Mit seinem Taxi fährt Schwittay ins Büro von Mirko Kruschinski. Der Versicherungsunternehmer hat eine Petition gegen die Schließung ins Leben gerufen. 4.606 Unterschriften hat er über das Internet und Zettel gesammelt. Gemeinsam legen die Männer die Papiere in einen braunen Karton, der an die Krankenhausleitung verschickt werden soll. Ursprünglich wollten sie die Petition persönlich übergeben. Doch das habe die Geschäftsführung abgelehnt. Nicht in Anwesenheit der Presse, habe man ihnen gesagt. "Darauf haben wir uns natürlich nicht eingelassen", sagt Kruschinski.

Was die Petition jetzt noch bewirken soll, weiß niemand so recht. Dass die Geburtsstation noch einmal wiederbelebt wird, ist mehr als unwahrscheinlich, auch wenn Schwittay die Hoffnung nicht aufgibt. "Wenn alles scheitert, haben wir wenigstens ein Zeichen gesetzt."

Die junge Mutter Ferreira-Baptista legt ihren Sohn Luka behutsam in seinen Sitz zurück. Der kleine Junge wurde am 10. April geboren und ist wohlauf. Auch, wenn er nun nicht aus Menden kommt, sondern aus dem 40 Minuten entfernten Nachbarort. Als erster seiner Familie ist er ein gebürtiger Schwerter.

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