GESUNDHEITSWESEN: Angst vor dem Kollaps

Daniel Scheidegger, Präsident der Akademie der medizinischen Wissenschaften, schlägt Alarm: Das Schweizer Gesundheitssystem werde «an die Wand gefahren», wenn sich nichts ändere.

Balz Bruder
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Das Gesundheitswesen in der Schweiz kostet jährlich 78 Milliarden Franken. (Bild: Gaëtan Bally/Keystone (Ilanz, 2. Dezember 2011))

Das Gesundheitswesen in der Schweiz kostet jährlich 78 Milliarden Franken. (Bild: Gaëtan Bally/Keystone (Ilanz, 2. Dezember 2011))

Balz Bruder

Das hat gesessen: «Die Planungssumme für Spitalumbauten ist höher als die veranschlagten Kosten der Neuen Alpentransversale (Neat). Wenn Sie heute wissen wollen, wo in einer Gemeinde das Spital ist, müssen Sie bloss nach Baukränen Ausschau halten.» Diese Aussage macht Daniel Scheidegger, Präsident der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW). Die Kritik, die der emeritierte Anästhesist äussert, ist folgende: «Wenn wir so weitermachen, fahren wir das System an die Wand.» Laut dem Basler braucht es «grosse, Kantonsgrenzen übergreifende Gesundheitsregionen, in denen nicht jedes Spital alle Leistungen anbietet». So hat es Scheidegger jüngst gegenüber der «Schweizerischen Ärztezeitung» formuliert.

Der akademisch höchste Mediziner der Schweiz ist nicht als Apokalyptiker bekannt, sondern als ebenso nüchterner wie scharfer Denker. Umso dramatischer ist sein Notruf. Und siehe da: Bernhard Wegmüller, Direktor der Spitalvereinigung H+, folgt ihm – wenigstens teilweise. «Der Vergleich mit der Neat stimmt nicht allzu schlecht. Beim Umsatz der Spitäler, psychiatrischen Kliniken und Kliniken der Rehabilitation von 20 bis 30 Milliarden Franken pro Jahr muss mit jährlichen Reinvestitions- und Unterhaltskosten von etwa 2 bis 3 Milliarden gerechnet werden», sagt er. Das sind über 10 Jahre rund 25 Milliarden, die auch die Neat gekostet hat beziehungsweise insgesamt kosten wird. Zum Vergleich: Das Gesundheitswesen kostet in der Schweiz jährlich rund 78 Milliarden.

Über 300 Akutspitäler

Doch danach hat es mit der Einigkeit zwischen Scheidegger und Wegmüller ein Ende. Geht Ersterer davon aus, dass es die Gesundheitsregionen noch zu erfinden gilt, ist Letzterer der Auffassung, es sei alles auf gutem Weg. Jedenfalls meint Wegmüller: «Die kantonsübergreifende Spitalversorgung ist vielerorts schon Realität oder in Entwicklung.» Als Beispiele nennt der H+-Direktor etwa das Luzerner Kantonsspital, das eine intensive Zusammenarbeit mit den Kantonsspitälern in den umliegenden Kantonen pflegt. Dass Ansätze da sind, bestreitet auch Gesundheitsökonom Heinz Locher nicht. Aber: «Gerade in kleinen und mittelgrossen Kantonen aller Landesgegenden dominieren immer noch Spitalpatriotismus und falscher Stolz, die weder der Qualität noch den Kosten zuträglich sind.» Die Sorge um den Systemkollaps des SAMW-Präsidenten hält Locher für berechtigt. Entscheidend sei der politische Wille der Kantonsregierungen, ob es über die Grenzen hinweg zu kosten- und qualitätsrelevanten Konzentrationen kommt. Und die Konsequenz der Bürger, die gleichzeitig Patienten, Prämien- und Steuerzahler sind. Für Locher ist klar: «Die Stimmbürger müssen mitmachen und sich so verhalten, wie sie es als Prämienzahlende jeweils im Herbst fordern.» Weniger wäre mehr, heisst das im Klartext.

Die Realität sieht anders aus, es gibt über 300 Akutspitäler im Land. H+-Direktor Wegmüller mag das aus nachvollziehbaren Gründen nicht beklagen: «In der Schweiz ist es halt die Bevölkerung, die letztlich über das Angebot oder Nichtangebot von Spitalstrukturen und über allfällige ­Investitionen mitentscheidet. Diese demokratische Abstützung hilft dabei, dass unser Gesundheitssystem von der Bevölkerung getragen wird – auch wenn dies manchmal mit etwas höheren Kosten verbunden ist.»

Jene, die es in der Hand hätten, «die etwas höheren Kosten» (Wegmüller), die das System «an die Wand fahren» (Scheidegger), in den Griff zu bekommen, sitzen in der Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK). Diese setzte letzte Woche an ihrer Jahres­tagung einen starken Akzent für das Prinzip «ambulant vor stationär». «Hier liegt Potenzial bei gleichbleibender Behandlungsqualität», ist GDK-Vizepräsidentin Heidi Hanselmann (SP/SG) überzeugt. Die Rede ist von einer halben Milliarde pro Jahr.

Das ist schön und gut. Doch es löst die Probleme nicht. Die langjährige Parlamentarierin und Gesundheitspolitikerin Ruth Humbel (CVP/AG) sagt: «Durch ihre Mehrfachrolle sind die Kantone gewissermassen auch Kostentreiber im Gesundheitswesen.» Was sie damit meint, ist: «Sie planen den stationären Bereich – ohne genaue objektive Kriterien wie Qualität und Kosteneffizienz – und bauen Hürden gegen ausserkantonale Hospitalisierungen. Gleichzeitig erstellen die Kantone Listen darüber, was alles nicht mehr stationär, sondern ambulant gemacht werden muss. Damit unterstützen sie den Ausbau der Spitalambulatorien und treiben die ambulanten Spitalkosten in die Höhe», moniert Humbel. Dabei sei anerkannt, dass die ungleiche Finanzierung und Tarifierung von ambulanten und stationären Leistungen ein Problem sei und falsche Anreize schaffe. «Die Kantone hingegen wollen diese aufrechterhalten und wehren sich gegen eine einheitliche Finanzierung», ärgert sie sich.

Bild: Grafik: LZ

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