Gastkommentar

Von der Fehldiagnose zur falschen Therapie

Stetig steigende Krankenkassenprämien widersprechen dem Solidaritätsgedanken. Die Grundversicherung ist eine gesamtgesellschaftliche Errungenschaft und nicht persönlicher Luxus.

Osmund Bertel und Hans Säuberli
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Pflegepersonal und Ärzte werden teilweise illegal ausgebeutet, die Arbeitsplatzzufriedenheit hat deutlich abgenommen. (Bild: Leber / images.de)

Pflegepersonal und Ärzte werden teilweise illegal ausgebeutet, die Arbeitsplatzzufriedenheit hat deutlich abgenommen. (Bild: Leber / images.de)

Die anhaltenden Negativmeldungen zum Zustand des Schweizer Gesundheitswesens sind erschreckend: ungebremste Kostensteigerungen, untragbare Krankenkassenprämien, dazu noch Qualitätsmängel. Ja, das Gesundheitswesen ist in einer Krise, vor allem aber durch Fehldiagnosen und verfehlte Therapie. Niemand bestreitet, dass die Schweiz über ein hervorragendes Gesundheitssystem verfügt, eines der besten weltweit. Trotzdem werden von einer Allianz politischer Akteure und Krankenkassen – unterstützt von Medien – dramatische Diagnosen gestellt. Mit zwei Argumenten wird uns eingehämmert, dass das Gesundheitssystem «zu teuer» sei: der Anteil am BIP (zurzeit 11,1 Prozent) und die stetig steigenden, für viele untragbaren Krankenkassenprämien.

Der Vergleich mit dem BIP ist ein «Auslaufmodell». Es gibt für die Gesundheitskosten keinen Prozentanteil am BIP, der «optimal» ist. Zudem ist das Gesundheitswesen selbst ein Wirtschaftsmotor von geradezu idealem Profil: Es schafft überdurchschnittlich viele Arbeitsplätze für weniger Qualifizierte und Hochqualifizierte. Darüber hinaus ist es ein wichtiger Standortfaktor für die pharmazeutische und die Medizinaltechnikindustrie mit ihren Startups. Die Wertschöpfung durch das Gesundheitswesen wird nicht erfasst und dem Steuerzahler nicht mitgeteilt. Gesundheitsökonomen halten in Sachen «Kostenexplosion» fest: Die Finanzierbarkeit ist gegeben, es besteht aber ein Effizienzproblem (NZZ 5. 5. 17): Wuchernde Administration und Verschwendung fressen die Mittel weg.

Falsche Therapie

Die Krankenkassenprämien steigen vor allem, weil sich die öffentliche Hand aus der Finanzierung zurückzieht. Kantone leisten im ambulanten Bereich keine Beiträge, obwohl gerade die Expansion dieses Spitalsektors mit Notfallstationen und Ambulatorien den Hauptfaktor für den Prämienanstieg darstellt. Die Initiative der Gesundheitsdirektoren, bestimmte Behandlungen nur noch ambulant zu erlauben, wird dies dramatisch bestätigen.

Stetig steigende Krankenkassenprämien widersprechen aber fundamental dem Solidaritätsgedanken. Die Grundversicherung ist eine gesamtgesellschaftliche Errungenschaft und nicht persönlicher Luxus. Eine einheitliche Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen unter Beteiligung der Kantone und die Deckelung der Krankenkassenprämien würden zu einer solidarischen Verteilung der Lasten nach Leistungsfähigkeit beitragen und erst noch die Prämienverbilligung als teures bürokratisches Monster überflüssig machen. Vorgeblich für Kostensenkung und bessere Versorgungsqualität basteln die Planwirtschafter in Bund und Kantonen laufend an Radikaltherapien. Das Ergebnis ist schockierend: Mehrkosten in Milliardenhöhe und in Teilbereichen verschlechterte Qualität. Vor allem wurde ein tiefgreifender Systemwechsel in Gang gesetzt – Kennzeichen sind eine Durchkommerzialisierung des Systems und eine grundlegende Änderung der ärztlichen Versorgung im Spital und in der ambulanten Medizin.

Zu mehr als fünfzig Prozent arbeiten Assistenzärzte nicht mehr am Patienten, sondern am Computer. An den unglaublichsten Orten entstehen lukrative, aber überflüssige Spezialabteilungen.

Ein Beispiel ist die Umstellung der Spitalfinanzierung auf das System der DRG. Mithilfe des deutschen Systems sollte die Schweiz genesen: Kostendämpfung, Freizügigkeit für Patienten, Transparenz durch einheitliche Tarife, Qualitätsverbesserung und vieles mehr wurde versprochen. Nichts davon ist eingetreten. Das Ergebnis ist ein ökonomisches Desaster. Schon im ersten Jahr stiegen die Kosten bei den Krankenkassen um eine halbe Milliarde Franken an. Bei den Kantonen und Spitälern waren es Hunderte Millionen Franken – vor allem durch neugeschaffene Stellen in der Administration mit Codierern, Controllern, Business- und Prozessmanagern.

Schlagartig wurden die Diagnosen doppelt so lang (mehr Befunde, mehr Geld), die Patienten wurden scheinbar schwerer krank. Als ob sich ein katastrophales Virus ausgebreitet hätte, wie ein Experte schrieb. Die Spitäler müssen sich hauptsächlich nach Geld strecken. Pflegepersonal und Ärzte werden teilweise illegal ausgebeutet, die Arbeitsplatzzufriedenheit hat deutlich abgenommen. Zu mehr als fünfzig Prozent arbeiten Assistenzärzte nicht mehr am Patienten, sondern am Computer. An den unglaublichsten Orten entstehen lukrative, aber überflüssige Spezialabteilungen. Eine irrsinnige apparative und vor allem bauliche Hochrüstung erfolgte überall – allein im Kanton Zürich im Milliardenbereich. Die anstehenden Investitionen im Umfang von 20 Milliarden Franken in den Spitälern der Schweiz umfassen keineswegs nur die Kosten für die Renovation maroder Bausubstanz. Spitäler konkurrieren mit Fünfsterneluxus, ohne Mehrwert für die Gesundheit.


Kosten im Gesundheitswesen - NZZ Dossiers


Und die Patienten? Sie wissen nicht, dass sie für Zweitbehandlungen statt eines einzigen Spitalaufenthalts nach Wochen wieder eintreten müssen, um eine neue DRG-Abrechnung zu ermöglichen. Der Einsatz der billigsten Implantate bleibt verborgen. Bestimmte wirksame Behandlungen können, weil nicht in den DRG-Kosten berücksichtigt, stationär nicht durchgeführt werden. Evidenzbasierte Massnahmen werden jahrelang von den DRG-Gremien blockiert, um Kosten zu sparen. Kein Wunder, dass auch schon Forderungen nach einer Rationierung der Behandlungen für alte Patienten laut werden.

Die «Reformen» der letzten Jahre führen auch zu schwerwiegenden Lücken in der Versorgung: Über ein Jahrzehnt dauerte es, bis der durch Zulassungsbeschränkungen produzierte Ärztemangel mit dem unhaltbaren «Import» ausländischer Ärzte zu zaghaften Korrekturen führte. Dies erfolgte jedoch zu spät, war zu teuer (über 100 Millionen Franken) und angesichts der anstehenden Massenpensionierungen doch zu wenig. Die Konsequenz sind vierzig Prozent ausländische Ärzte in den Spitälern mit zum Teil ungenügenden Sprachkenntnissen. Rollenkonflikte für Ärzte sind alltäglich. Im Spital sei es für Ärzte erste Pflicht, «Geld fürs Spital zu generieren», so ein junger Kollege. Chefärzte, die sich vor allem für medizinische Belange und damit für ihre Patienten einsetzen, werden bei Nichterreichen der «Leistungsziele» im Wiederholungsfall entlassen.

Hausärzte sterben aus

Schlimmer noch ist der Umgang mit den Hausärzten. Sie haben seit Jahren mit finanziellen Einbussen zu kämpfen, mit wachsender Administration und Pauschalverdächtigungen. Heute steht die Versorgung durch praktizierende Ärzte vor einem enorm teuren Umbruch, ohne Mehrwert für die Patienten. Hausärzte sterben aus, Spitäler und ihre Notfallstationen übernehmen die ambulante Versorgung. Die Kosten für ambulante Behandlungen im Spital wachsen rasant. Arztpraxen werden laufend in grossem Stil von Aktiengesellschaften und Genossenschaften aufgekauft. Die Migros führt mit 35 Gesundheitszentren bereits jetzt das grösste Netzwerk in der Grundversorgung. Die darin tätigen Ärzte sind als Angestellte nicht mehr nur ihren Patienten verpflichtet. Der Beruf des eigenverantwortlichen Arztes mit unternehmerischem Risiko und unbedingter Loyalität zu seinen Patienten ist immer weniger attraktiv, vor allem auch aufgrund andauernden Ärzte-Bashings. Betrüger kommen als Beispiel für «die Ärzteschaft» in die Schlagzeilen und dienen als populistisches Argument für vom Bundesrat diktierte Tarife. Wieder eine Reform mit negativen Folgen für die Patienten; ihnen teilt die Planwirtschaft durch Überregulierung und Administration frustrierte, weniger leistungsbereite «neue Ärzte» zu – zurückgestutzt vom Arzt zum Leistungserbringer, wenig motiviert für die mühsame Qualitätsverbesserung und Effizienzsteigerung.

Mit drei Grundregeln wäre viel erreicht: Erstens eine seriöse Folgenabklärung im Voraus für alle Reformen und Verordnungen nach den Prinzipien des KVG: Wirksamkeit – Wirtschaftlichkeit – Effizienz. Zweitens der Kampf gegen Überregulierung und Bürokratie, und drittens: Schluss mit Dissenspolitik und Ärzte-Bashing, zurück zur Konkordanz. Die dringlichsten Themen sind gesetzt: stabile Krankenkassenprämien und eine weitere Verbesserung der Effizienz.

Osmund Bertel ist Facharzt FMH für Kardiologie am Herzgefässzentrum der Klinik Im Park der Hirslandengruppe; Hans Säuberli war Chefarzt an der Chirurgischen Klinik des Kantonsspitals Baden.