Quo vadis Urologie? Dem unvoreingenommenen Betrachter bietet die Urologie im Jahre 2017 vielleicht den Eindruck, dass es überwiegend um das Prostatakarzinom geht. So dominiert das – natürlich robotisch – zu operierende lokal begrenzte Prostatakarzinom und die medikamentöse Therapie des kastrationsrefraktären Prostatakarzinoms ganz eindeutig z. B. die Sitzungsthemen der DGU-Tagung 2016 (Deutsche Gesellschaft für Urologie, Abb. 1).

Abb. 1
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Sitzungsthemen der DGU 2016 in Leipzig (OAB „overactive bladder“, BPS benignes Prostatasyndrom, RCC „renal cell carcinoma“)

Der demographische Wandel ist in kaum einem Fach so deutlich wie in der Urologie

Die Ursachen für diese Fokussierung lassen sich schnell identifizieren: Wo hochpreisige Medikamente mit Tagestherapiekosten im dreistelligen Eurobereich zugelassen und weiterentwickelt werden, gibt es Studiengelder, Studienärzte, Publikationen und Vortragsanmeldungen etc. Aber spätestens nach dem unrühmlichen Ende der PREFERE-Studien (präferenzbasierte randomisierte Studie zur Evaluation von vier Behandlungsmodalitäten beim Prostatakarzinom mit niedrigem und frühem intermediären Risiko) und den Ergebnissen der ähnlichen ProtecT-Studie („prostate testing for cancer and treatment“) aus England sind Zweifel angesagt, ob die Reduzierung der Urologie auf dieses Thema der Zukunft gerecht wird. So muss sich die Urologie hier vielleicht die Frage gefallen lassen, ob die mangelnde Rekrutierung in die Deutsche Vorzeigestudie vielleicht daran liegt, dass kein Interesse an der Klärung der Frage bestand, ob die invasiven Therapieformen nun wirklich einen Überlebensvorteil gegenüber der Active Surveillance erbringen. Die von Hamdy et al. [1] publizierten Daten der ProtecT-Studie deuten – wenn auch mit etwas anderem Studiendesign – an, dass das krebsspezifische Überleben in der Active-Surveillance-Gruppe im Vergleich mit den Therapiearmen Operation oder Radiatio jedenfalls bei einer Vielzahl der Prostatakarzinome nach 10 Jahren gleich ist. Noch deutlicher wird das Problem „Geld macht Wissenschaft“ bei dem metastasierten Nierenzellkarzinom: Ob der 10. Antikörper für ein Dank der bei Primärdiagnose immer kleiner werdenden Nierenzellkarzinome mit einer Inzidenz von 7 (zumeist operativ heilbaren Nierentumoren) wirklich noch einen Vorteil bringt, muss vielleicht noch erklärt werden. Hinter vorgehaltener Hand wird gemunkelt, dass die Zulassung zusätzlicher Substanzen schon daran scheitert, dass quasi alle Patienten mit den passenden Einschlusskriterien bereits in Studien eingeschlossen sind.

Tatsächlich ist der demographische Wandel in kaum einem Fach so deutlich angekommen wie in der Urologie. Nach den Daten der Bundes-KV hat die Urologie den höchsten Anteil an über 65-Jährigen in der Behandlung, der stärkste Zuwachs dieser Patientengruppe in den nächsten 10 Jahren wird in der Urologie stattfinden und – Regelleistungsvolumina hin oder her – der Betreuungsbedarf dieser Patienten liegt für den Urologen 1,8fach so hoch wie in dem Durchschnitt aller anderen Fächer. In der eigenen Abteilung sind rund die Hälfte aller Patienten 65 Jahre oder älter (Abb. 2).

Abb. 2
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Altersverteilung einer urologischen Fachabteilung über 1,5 Jahre: Fast die Hälfte der stationären Patienten sind über 65 Jahre alt

Dies zieht natürlich Forderungen nach der Refinanzierung dieser Veränderungen nach sich – zusätzlich muss sich die Urologie der Zukunft aber auch die Frage gefallen lassen, ob sie inhaltlich für diese Herausforderung gerüstet ist. Dabei sind die beherrschenden Themen dieser Patientengruppe eben nicht das Prostatakarzinom oder die Onkologie. Im eigenen Patientengut von über 75-jährigen, „geriatrischen“ Patienten spielten onkologische Themen jedenfalls keine Rolle (Abb. 3):

Abb. 3
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Primärdiagnosen bei 75 „ISAR-positiven“ („identfication of seniors at risk“) Patienten in der Urologie des Ev. Krankenhauses Witten (BPS benignes Prostatasyndrom, Auszug aus: Plum M, Hanke F, Wiedemann A, Zwischenbericht der IBFS-Studie zu arzneimittelassoziierten Blasenfunktionsstörungen bei Heimpatienten, persönliche Kommunikation)

Es dominieren Funktionsstörungen der Harnblase, Blasenentleerungsstörungen, Inkontinenz, Hämaturien und Infekte.

Diese Realität des „geriatrischen Patienten in der Urologie“ ist im Gegensatz zu den medizinischen Organfächern längst in der Gesetzgebung angekommen. Nach dem Landeskrankenhausgesetz NRW ist es – wie in vielen anderen Bundesländern – vorgeschrieben, dass jeder über 75-Jährige, der in ein Krankenhaus eingeliefert wird, verbindlich einem geriatrischen Screening unterzogen wird. Das vom Gesetzgeber vorgeschriebene „ISAR-Screening“ (Abb. 4) dient dazu, geriatrische Patienten, die per definitionem mit ihrer besonderen Vulnerabilität, die bei Behandlungsfehlern sofort zu Chronifizierung und Autonomieverlust führt, zu erkennen und in einem interdisziplinären Dialog zu behandeln. Dies kann in der praktischen Umsetzung nur bedeuten, sich mit einer ganzheitlichen „geriatrischen“ Sichtweise urologischen Patienten zu nähern und urologische Methoden an die Belange geriatrischer Patienten in der Urologie und anderswo anzupassen. Das Gesagte stellt nach Auffassung des Autors gleichzeitig die neue Definition des Bereichs „geriatrischen Urologie“ dar.

Abb. 4
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ISAR-Screening zur Erfassung von Patienten mit geriatrischem Handlungsbedarf im Krankenhaus [2]

Urologische Methoden müssen an die Belange geriatrischer Patienten in der Urologie angepasst werden

„Geriatrische“ Themen bei urologischen Patienten stellen z. B. die Probleme der Beeinflussung der Kognition nach operativen und konservativen Maßnahmen in der Urologie dar, die Einflüsse der Multimorbidität und Multimedikation auf die Funktion des Harntraktes, eine adäquate Behandlung der Blasenentleerungsstörung und weitere dar. Hierfür seien drei Beispiele für eine „praktische Urogeriatrie“ genannt:

Kognitive Veränderungen nach urologischen Routineeingriffen

Dass eine schwere Allgemeinerkrankung, ein Intensivaufenthalt, eine Operation die Kognition akut, heftig und zumeist reversibel („Delir“) oder auch schleichend chronisch verändern kann, ist bekannt. Leider liegen Daten hierzu fast ausschließlich aus der Chirurgie und Kardiologie vor. Diese sagen übereinstimmend aus, dass die Länge der Operation, der damit verbundene Blutverlust, eine intraoperative Hypotonie und ein Intensivaufenthalt in diesem Kontext ein Risiko für kognitive Defizite darstellen. Die spärlichen Daten aus der Urologie sind teilweise alt oder mischen verschiedene urologische Eingriffe.

In einer eigenen Untersuchung wurde in einer großen Patientengruppe die Erfassung der Kognition bei dem häufigsten urologischen Eingriff der transurethralen Resektion der Prostata (TURP) bzw. der in Anbetracht der immer weiter verbreiteten Antikoagulation häufiger angewendeten Greenlight-Laserung der Prostata präoperativ und nach 2 Tagen vorgenommen und ihre Veränderungen untersucht. Es zeigten sich bei rund 200 Patienten keine signifikanten Veränderungen in der „minimental state examination“ (MMSE) und im Uhrentest (Tab. 1) – unabhängig von Risikofaktoren wie Blutverlust, Natriumveränderungen oder Kreatininanstieg. Weder die Operationsmethode, noch die Anzahl der Komorbiditäten oder der Medikamente hatten einen Einfluss auf das Outcome.

Tab. 1 Veränderungen von 2 Kognitionstests (MMSE und Uhrentest) präoperativ und 2 Tage postoperativ bei 202 Patienten mit TURP (n = 88) und Greenlight-Laserung der Prostata (n = 114; [3])

Eine Erfassung von Risikofaktoren durch „geriatrische“ Assessments ist hilfreich

Die Patienten jedoch, die bereits präoperativ eine messbare Einschränkung ihrer Kognition aufwiesen (<23,7 Punkte im MMSE), verschlechterten sich stärker als der Durchschnitt der restlichen Patienten – ein Argument für die systematische und messgenaue Erfassung von Risikofaktoren durch „geriatrische“ Assessments über die in der Praxis oder Klink geübte Praxis der „Abschätzung“ des Zustands eines Patienten.

Erstmals kann nun auf der Basis dieser Daten der von dem Gesetzgeber geforderte „interdisziplinäre Dialog“ über zur Operation anstehende Patienten geführt werden.

Risikofaktor einer anticholinergen Medikation

ZNS-gängige Anticholinergika z. B. zur Therapie der OAB („overactive bladder“) können kognitive Defizite und damit Einschränkungen der Alltagsfähigkeit, Verkehrstauglichkeit und Sturzvermeidung auslösen. Gerade Stürze stellen ein hochfrequentes Problem in der Altersgruppe der Hochbetagten dar, das aber auf der einen Seite nicht im Fokus des Urologen liegt, auf der anderen Seite die Sturzauslöser dem behandelnden Unfallchirurgen nicht präsent sind: So zählen zu den Risikofaktoren für Stürze vorangegangene Sturzereignisse, ein weibliches Geschlecht, mehr als 4 Medikamente und bestimmte Erkrankungen.

Viele Substanzen aus der Komedikation sind in der Lage, Muskarinrezeptoren zu besetzen

Delikat: Sowohl die Inkontinenz v. a. mit der Nykturie sind sturzfördernd, als auch die anticholinerge Medikation. Problem hierbei: Viele Substanzen aus der Komedikation sind in der Lage, Muskarinrezeptoren zu besetzen, ohne dass dies dem verordnenden Hausarzt, Neurologen oder Urologen bewusst ist – nachzulesen in Datenbanken wie agingbraincare.com. Hier werden sämtliche Substanzen mit einem Punktesystem bewertet – 0 Punkte – keine anticholinerge Last, 3 Punkte – hohe anticholinerge Beladung (Tab. 2).

Tab. 2 Anticholinerge Last durch die Komedikation: ACB („Anticholinergic Burden Score“) von 3 bedeutet eine hohe anticholinerge Beladung (Auszug aus agingbraincare.com)

Daten aus einer nicht-interventionellen Studie bei der Behandlung der OAB mit dem nicht ZNS-gängigen Trospiumchlorid zeigten, dass alleine durch die Komedikation schon 11,75 % der Patienten eine hohe anticholinerge Last mit einem ACB-Score von 3 vor der Einleitung der geplanten „urologischen“ anticholinergen Medikation aufwiesen (Ivchenko, A., Wiedemann A., Vortrag Forum Urodynamikum 2017). Dieser Prozentsatz ist höher als in vergleichenden Untersuchungen bei stationär-geriatrischen Patienten und sollte in der Behandlung dieser Patienten Berücksichtigung finden (Abb. 5).

Abb. 5
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Anticholinerge Last bei 1007 ambulanten Patienten vor anticholinerger Therapie: 11,75 % wiesen bereits eine hohe anticholinerge Last mit einem ACB-Score von 3 auf

SPK bei Blasenentleerungsstörungen

Die Anlage eines Blasenfistelkatheters stellt häufig die letzte palliative Maßnahme bei einer Blasenentleerungsstörung dar und wird dann eingesetzt, wenn Komorbiditäten, der Allgemeinzustand oder die mangelnde kognitive Leistungsfähigkeit eine erfolgreiche operative Desobstruktion nicht Erfolg versprechend erscheinen lassen. In der eigenen Abteilung wurden diesen Patienten bzw. den betreuenden Angehörigen die simultane SPK-Anlage (suprapubischer Blasenkatheter) und Greenlight-Laserung der Prostata angeboten und in Kooperation mit dem Hausarzt oder betreuenden Urologen langfristig versucht, den SPK wieder zu entfernen. Dies gelang bei 24 von 48 Patienten; zieht man die 10 Patienten, die nicht nachverfolgt werden konnten, ab, ergibt sich eine „Erfolgsquote“ des Konzepts von 63 %. Die Herausforderung: Die so späte Katheterentfernung nach bis zu 50 Tagen wird weder im DRG-System („diagnosis-related groups“), noch im Regelleistungsvolumen refinanziert (Abb. 6).

Abb. 6
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Katheterentfernung nach simultaner SPK-Anlage und Greenlight-Laserung bei 48 zur alleinigen SPK-Anlage eingewiesenen Patienten (unpublished data)

Ein interessanter Aspekt dieser Arbeit ist, dass in der statistischen Analyse nicht etwa „urologische“ Parameter wie Prostatagröße oder Restharnvolumen die Chance einer späteren Katheterentfernung vorhersagen konnten, vielmehr waren es „geriatrische“ Gesichtspunkte wie der Hilfebedarf und die Anzahl der Medikamente in der Komedikation.

Fazit für die Praxis

  • Die „geriatrische Urologie“ ist die Lösung für die Besonderheiten der urologischen Patienten der Zukunft.

  • Der Import von geriatrischen Methoden wie den Assessments in die Urologie und die Anpassung urologischer Methoden an geriatrische Patienten mit ihrer besonderen Vulnerabilität ermöglicht eine ungeheure Erweiterung der Möglichkeiten des Fachs.

  • Wenn es gelingt, die geforderte fachliche Kompetenz herzustellen und eine angemessene Refinanzierung zu erreichen, ergeben sich vor dem Hintergrund des die Urologie besonders begünstigenden demographischen Wandels exzellente Zukunftsaussichten im ambulanten und stationären Sektor. Dabei wird die Neuausrichtung des Faches das Ausmaß des letzten großen Aufbruchs in der Urologie – die Lösung von der Chirurgie mit Etablierung eines eigenen Faches – vielleicht noch übertreffen.