Bülacher Chefarzt muss in Liestal operieren

Die Zürcher Regionalspitäler haben sich zu einer Interessengemeinschaft verbündet. Die zunehmenden Auflagen des Kantons gefährdeten ihre Existenz, klagen sie.

Jan Hudec
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Regionalspitäler befürchten, komplexere Eingriffe bald nicht mehr vornehmen zu dürfen. (Bild: Christian Beutler / NZZ)

Regionalspitäler befürchten, komplexere Eingriffe bald nicht mehr vornehmen zu dürfen. (Bild: Christian Beutler / NZZ)

Jeanine Würsler* kämpft seit Jahren mit ihrem Gewicht. Bewegungstherapien, Diäten: Die 42-Jährige hat alles versucht, um abzunehmen. Geholfen hat nichts. Mit ihren 105 Kilogramm bei einer Grösse von 1 Meter 65 ist sie nicht nur krankhaft übergewichtig, sondern leidet auch an Begleiterkrankungen wie Bluthochdruck und Diabetes. Für Giacinto Basilicata ist sie eine typische Patientin. Der Chefarzt des Spitals Bülach ist spezialisiert auf bariatrische Chirurgie, die operative Behandlung von Adipositas. Nach diversen Abklärungen, ob Würsler nicht auf anderem Weg abnehmen könnte, entscheiden sich Arzt und Patientin schliesslich für einen Eingriff. Diesen darf der Chirurg allerdings nicht in Bülach machen, er muss dafür ans Kantonsspital Baselland ausweichen, wo er früher tätig war. Also muss die Patientin aus dem Zürcher Unterland für ihren Magen-Bypass nach Liestal reisen. Nach der Operation liegt sie noch vier Tage auf der Station, und der Bülacher Arzt fährt jeden Tag mit seinem Auto ins Kantonsspital Baselland, um nach ihr zu schauen. So wie er es bisher bei 25 weiteren Patienten tun musste. «Das ist schon ziemlich mühsam», sagt Basilicata dazu.

Laufender Rechtsstreit

Der Grund für die absurde Situation: Das Spital Bülach hat für die bariatrische Chirurgie keinen Leistungsauftrag vom Kanton erhalten. Diesen hatte es im Mai 2016 bei der Gesundheitsdirektion beantragt. Wie Spitaldirektor Rolf Gilgen sagt, wurde das Gesuch «ohne eine konkrete Begründung und ohne Prüfung unserer Argumente» abgelehnt. Denn eigentlich erfüllten sie alle Anforderungen: «Wir haben die Zertifizierung der Fachgesellschaft, die nötige Infrastruktur, und wir kommen auch auf die geforderten Fallzahlen.» Zudem bestehe ein Bedarf. Im Einzugsgebiet des Spitals Bülach biete den Eingriff niemand an.

Mit dem Streitfall beschäftigt sich nun das Bundesverwaltungsgericht. Der Kanton will sich nicht zum laufenden Verfahren äussern. Im Regierungsratsbeschluss zum Antrag aus Bülach und zu den Anträgen weiterer Spitäler heisst es aber generell, dass Gesuche um Erweiterungen der bestehenden Leistungsaufträge abzuweisen seien. Zunächst brauche es eine vertiefte Prüfung der Bedarfsplanung und der Wirtschaftlichkeit. Auf Anfrage schreibt die Gesundheitsdirektion, dass acht Spitäler auf der Zürcher Spitalliste über den Leistungsauftrag in bariatrischer Chirurgie verfügten. Tatsache ist aber, dass der Kanton an die Behandlung der Zürcher Patienten auch dann einen Beitrag bezahlen muss, wenn der Bülacher Chefarzt sie im Kantonsspital Baselland operiert. Denn die Patienten haben die freie Spitalwahl. Die Gesundheitsdirektion schreibt weiter, das Spital Bülach komme gemäss ihren Erkenntnissen nicht auf die nötigen Fallzahlen, zumal es keinen Leistungsauftrag habe. Ein Teufelskreis: Gerade weil der Leistungsauftrag fehlt, operiert der Chirurg ja in Liestal statt in Bülach.

Für Gilgen ist der Fall sinnbildlich dafür, wie die Regionalspitäler in ihrer Entwicklung eingeschränkt würden. Besonders belastet ihn aber die geplante Erhöhung und Ausweitung der Mindestfallzahlen. Diese legen fest, wie viele Eingriffe ein Spital in einer Disziplin pro Jahr mindestens machen muss, um einen Leistungsauftrag vom Kanton bekommen zu können. Eingeführt wurden die Vorgaben 2012 für knapp 30 Arten von Eingriffen. Auf Anfang 2018 soll nun eine Ausweitung folgen. Das Hauptargument dafür ist die Behandlungsqualität. Wenn eine bestimmte Operation in einem Spital häufiger durchgeführt wird, hat man dabei mehr Übung, macht also auch weniger Fehler. Dabei sollen Mindestfallzahlen vor allem in Bereichen der spezialisierten Medizin gelten. Und die ersten Erfahrungen waren im Kanton durchaus positiv. So konnte die Gesundheitsdirektion aufzeigen, dass die Mortalität in den Bereichen mit Mindestfallzahlen stärker sank als in anderen Bereichen und die Kosten weniger stark wuchsen. Deshalb sah man sich bestärkt darin, einen Schritt weiterzugehen.

Rolf Gilgen lehnt die Mindestfallzahlen denn auch nicht rundweg ab. Nach so kurzer Zeit die Regeln aber zu verschärfen, könne für die Regionalspitäler zum ernsthaften Problem werden. «Wir fühlen uns in unserer Existenz bedroht», sagt er. Fielen weitere Disziplinen weg, reichten die Einkünfte nicht mehr, um defizitäre Behandlungen querfinanzieren zu können. Vor allem würden die Krankenhäuser damit auch weniger attraktiv als Arbeitgeber. «Für ein Regionalspital ist es heute schon nicht so einfach, einen guten Chefarzt zu finden. Kann der aber in seinem Spezialgebiet nicht operieren, wird er sich nach einem anderen Arbeitsplatz umschauen.»

Jörg Kündig, Verwaltungsratspräsident des Spitals Wetzikon, pflichtet dem bei. «Wir werden ganz klar geschwächt.» Brächen die Erträge weg, werde es schwierig, die getätigten Investitionen zu refinanzieren. «Wir brauchen möglichst grosse Planungssicherheit.» An sich habe man erwartet, dass die Mindestfallzahlen erst für 2021 wieder ein Thema werden, wenn die Spitalplanung in grösserem Umfang überarbeitet wird. Nun würden stattdessen bei laufendem Spiel die Regeln geändert. Kritisch sieht er zudem, dass Mindestfallzahlen künftig auch für einzelne Ärzte gelten sollen. «Das wird die Löhne der Spezialisten weiter hochtreiben.» Zudem werde es dann schwieriger, junge Ärzte anzustellen, weil diese noch nicht auf die nötigen Fallzahlen kämen. «Darunter wird die Ausbildung leiden.»

«Nur noch Pickel entfernen»

Die Zürcher Regionalspitäler haben sich deshalb zu einer Interessengemeinschaft verbunden. Gemeinsam wollen sie Druck machen auf den Kanton. Ihr Ziel ist es, dass die Änderungen erst ab 2021 eingeführt werden, zusammen mit einer fundierten Analyse zu den Auswirkungen für die Regionalspitäler. Zudem sollen die Mindestfallzahlen nicht an einzelne Ärzte gebunden werden.

Auf die Kritik der Regionalspitäler geht die Gesundheitsdirektion nicht im Detail ein. Derzeit werde auf Grundlage der Vernehmlassung und weiterer Analysen die Anpassung der Mindestfallzahlen finalisiert, heisst es auf Anfrage. Neben der Kritik seien in der Vernehmlassung auch zahlreiche zustimmende Stellungnahmen eingegangen. «Diese begrüssen die vorgesehenen Änderungen mit Blick auf die Qualitätssicherung.» Es ist denn auch das erklärte Ziel des Kantons, «seltene und komplexe Leistungen aus Qualitätsgründen zu konzentrieren, ohne dabei die Versorgung zu gefährden». Das ist eine Gratwanderung. Gilgen sagt, dass es für die Spitäler wichtig sei, auch etwas über die Grundversorgung hinaus leisten zu können. «Wird weiter zentralisiert, dürfen wir am Ende nur noch Pickel entfernen.»

So weit wird es sicherlich nicht kommen. In welchen Bereichen der Kanton die Zügel weiter anzieht, darüber wird der Regierungsrat in den nächsten Wochen entscheiden.

* Name geändert.