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Russlands Gesundheitssystem krankt

Intensiv-Pflegestation in Sankt Petersburg. Importeinschränkungen führen zu Engpässen. Foto: Alexander Demianuk (Getty Images)

Als Russlands Präsident Wladimir Putin kürzlich mal wieder Fragen der Bürger im Fernsehen beantwortete, versuchte auch Natalia Timochina aus Newinnomyssk am Telefon durchzukommen. Newinnomyssk liegt im Süden des Landes unweit von Sotschi, Natalia Timochina ist 26 Jahre alt und hat Lymphdrüsenkrebs. Sie braucht dringend ein teures Medikament. Mit dem Staatschef durfte sie nicht sprechen, aber dessen Team sorgte dafür, dass in einer Lokalzeitung ein Spendenaufruf mit Timochinas Kontaktdaten erschien. «Das wars», sagt sie nun am Telefon. «Mehr kommt wohl nicht. «Sie hat Angst, bald zu sterben, und ihr Alltag ist ein Abbild des gebeutelten russischen Gesundheitswesens.

Die Annexion der Krim, der Sanktionskrieg, der Krieg in Syrien, die bevorstehende Fussball-WM, einiges hat zuletzt an Russlands Haushalt gezerrt, sodass der Gesundheitsetat immer weiter gesunken ist. Um es in Relation zu setzen: In Russland betragen die Gesundheitsausgaben im Jahr pro Einwohner umgerechnet knapp 900 Franken; in der Schweiz ist es mehr als das Zehnfache – Tendenz steigend.

Die Reichen gehen ins Ausland

Was das konkret bedeutet, war gut zu ­sehen, als die patriotischen Wellen im Ukraine-Krieg hochschlugen. Damals landete der Parlamentsabgeordnete Iosif Kobson für seine chauvinistische Rhetorik auf der Sanktionsliste der EU. Er ist ein bekannter Sänger, bald 80, und offenbar nicht ganz gesund. Zum Onko­logen geht Kobson lieber in Mailand. Dafür erhielt er ein Sondervisum.

Die Duma hat in Sachen Gesundheitswesen als Reaktion auf die westlichen Sanktionen unter anderem ein Gesetz verabschiedet, das die Einfuhr von Medikamenten und medizinischen Geräten aus dem Westen einschränkt, Defibrillatoren, Prothesen, orthopädische Matratzen, Verbandszeug. So sollen die russischen Hersteller gestärkt werden. Ärzte beklagen dagegen Versorgungslücken.

Eine Tochter des mit Putin befreundeten Milliardärs Arkadi Rotenberg betreibt angeblich eine Firma, die vermögende Russen zur Behandlung nach Deutschland fliegt. Das berichtete der oppositionelle TV-Sender Doschd. Dass die Geschichte stimmt, lässt sich nicht zweifelsfrei belegen. Es wäre aber an­gesichts der Zustände in russischen Spitälern ein naheliegendes Geschäfts­modell.

Für nicht vermögende Russen wie Natalia Timochina bedeutet das, dass sie sich bei Putin über den Staat beschweren müssen. Um beim Beispiel Onkologie zu bleiben: Timochina ist auf das Präparat Adcetris des japanischen Herstellers Takeda angewiesen. Eine Injektion kostet in Russland gut 10 000 Franken, etwa gleich viel wie in der Schweiz. Timochina braucht 16 Injektionen. Russische Krankenversicherungen bezahlen Adcetris nicht, obwohl sie gesetzlich dazu verpflichtet sind. In der Schweiz zahlen die Kassen auf begründeten Antrag des behandelnden Onkologen.

Seit sie im September 2015 ihre Diagnose erfuhr (Hodgkin-Lymphom), hat Timochina vier Briefe an Putin geschrieben. Die ersten drei mit der Bitte um Hilfe. Diese wurden an das regionale Gesundheitsministerium weitergeleitet.Das hat aber von Anfang an mitgeteilt, dass es wegen knapper Kassen leider nicht helfen könne. Timochinas vierter Brief war eine Beschwerde über das Ministerium. Woraufhin das Ministerium ihr doch eine Injektion Adcetris bezahlte. «Ausnahmsweise, die erste und letzte, wie es hiess», sagt sie. Eine weitere Injektion bezahlte die Stiftung «Podari schisn» (Schenke das Leben). Die hilft ihr heute aber nicht weiter, denn Timochina ist inzwischen 26 Jahre alt geworden. Die Stiftung hat eine Spenden-Altersgrenze von 25 Jahren.

Stiftungen spielen beim Thema Krebs eine kritische Rolle. Oft versucht der russische Staat, seine schwierigsten Aufgaben an sie weiterzureichen. Das geht dann so, dass das regionale Gesundheitsministerium, das für Natalia Timochina zuständig ist, im März an die Stiftung Ad Vita in Sankt Petersburg einen Brief schickt mit der dringenden Bitte, für Timochina Adcetris zu besorgen. Ad Vita ist eine grosse Stiftung, aber ihre Mittel sind begrenzt. Eine Mitarbeiterin teilt mit, man habe das Gesundheits­ministerium an die Rechtslage erinnert, Artikel 41 der russischen Verfassung («Jeder hat das Recht auf Schutz der Gesundheit und auf medizinische Hilfe). «Aber im Grunde lassen wir diese Menschen im Stich», sagt die Mitarbeiterin.

Ein trauriger Trend

Timochina ist nicht die Einzige, die im Stich gelassen wird. Allein in Sankt Petersburg brauchen etwa 40 000 Erwachsene teure Medikamente. Der Staat ist von Anfang an raus, Ad Vita kann etwa 500 Leuten helfen, und noch mal so vielen landesweit. Dabei ist Ad Vita eine der wenigen Stiftungen, die überhaupt Erwachsenen helfen. Bei Kindern sieht es glücklicherweise anders aus, unter den 120 000 Krebskranken in Sankt Petersburg sind laut Ad Vita nur 120 Kinder, und diese seien gut versorgt.

Timochina hat im sozialen Netzwerk V-Kontakte geschrieben: «Ich will leben, sehr.» Sie sammelt Geld im Internet, was in Russland zu einem traurigen Trend geworden ist: Kranke dokumentieren ihren Überlebenskampf. Timochina postet Selfies mit Adcetris-Fläschchen, Tomografiebefunde, Fotos von selbst gebastelten Ikebanas, die man bei ihr im Lotteriespiel gewinnen kann. Ein Los kostet 100 Rubel, etwa 1.50 Franken. Ihre Ikebanas nennt sie «Glücksbäume», sie schreibt darunter: «Ich will so sehr Mama werden!!!!! Diesen Glücksbaum habe ich gemacht, ich werde diese Schönheit an den Gewinner per Post schicken, ich hoffe, er bringt Ihnen Liebe, Glück, Gesundheit.»

Timochina arbeitete früher in einem Möbelgeschäft und wog 67 Kilo, nun wiegt sie noch 47. Dank der beiden Adcetris-Injektionen ist ihr Tumor von 13 auf 10 Zentimeter geschrumpft. Es gelang ihr, Geld für eine dritte Injektion zusammenzukriegen. Die wird Ende Juli gesetzt. In drei Wochen braucht sie die vierte. «Es ist schwer, über sich selbst zu schreiben», schreibt sie. «Schwer, um Hilfe zu betteln, aber eine andere Chance auf Leben habe ich nicht.»

Das Gesundheitsministerium hat auf seiner Internetseite folgenden Erfolg zu vermelden: Die russischen Ärzte haben in Österreich die Fussball-WM der Ärzte gewonnen. Wie im letzten Jahr.