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Der Spitalrechnungsdetektiv

Der Seemer Buchhalter Alfred Haug spart den Versicherungen durch seine Detektivarbeit jede Menge Geld ein.

Die Kameras, die Alfred Haug in seiner Wohnzimmer-Vitrine aufbewahrt, sind alle analog, aus dem Filmzeitalter. Im Büro mag es der 64-Jährige dagegen lieber digital. Denn dank der Tatsache, dass inzwischen 95 Prozent aller Gesundheitsrechnungen elektronisch erfasst werden (und der Rest eingescannt), kann er bequem von zuhause aus arbeiten. Eigentlich hat er sich vor zwei Jahren frühpensionieren lassen, um mehr Zeit für seine Enkel zu haben. Aber ganz ohne Arbeit fehlte ihm doch etwas.

Früher wurde alles bezahlt

Abends und manchmal morgens kontrolliert Haug Arzt- und Spitalrechnungen im Auftrag der Axa-Winterthur-Unfallversicherung und der Basler Versicherung auf Fehler. Eine Arbeit, die er mit Goldwaschen vergleicht: Manchmal findet man tagelang nichts in der Pfanne, dann gleich mehrere Nuggets aufs Mal. Diese Goldstücke kommen ihm allerdings nichts selbst zugute, sondern seinem Arbeitgeber, den Versicherungen. Die kleine Abteilung HKK, Heilungskostenkontrolle, der Axa Winterthur hat er ab 2007 selbst aufgebaut. Davor zahlte der Unfallversicherer die Heilungskosten quasi unbesehen und kontrollierte nur bei den Renten genauer, sagt Haug.

Bevor er zur Axa (damals Winterthur Versicherungen) kam, hatte er jahrelang die Administration der Klinik Lindberg geleitet. Er brachte daher das nötige Spital-Fachwissen mit, das der Versicherung bisher gefehlt hatte. Die Vorgabe seines Chefs lautete: Mindestens 300 000 Franken pro Jahr sollte Haug und seine Assistentin einsparen, damit sich der Aufwand lohnt. Es wurde am Ende mehr als eine Million Franken pro Jahr, sagt Haug. Und ergänzt augenzwinkernd: «Ich hätte statt eines Fixlohns besser eine Erfolgsbeteiligung ausgehandelt.

Passt der Diagnosecode?

Die alltägliche Detektivarbeit ist unspektakulär, damals wie heute. Eine Fleissarbeit, assistiert von Computerprogrammen. Bei den ambulanten Rechnungen landete nur ein kleiner Teil der abertausenden Rechnungen auf dem Tisch der HKK, nämlich die ungewöhnlich teuren und diejenigen, welche die Software als fehlerhaft aussortierte. Bei Unfällen mit Spitalaufenthalt werden alle Rechnungen angeschaut. Hier gilt es das ausgeklügelte Klassifikationssystem DRG (kurz für Diagnostic Related Groups, zu deutsch: diagnosebezogene Fallgruppen) zu verstehen, auf dessen Grundlage die Ärzte und Spitäler ihre Leistungen abrechnen. Haug überprüft: Passen die Behandlungscodes zur Diagnose? Kleine Abweichungen können finanziell stark ins Gewicht fallen.

Eine Handvoll Kliniken stellten Rechnungen, die bis zu sechsmal so hoch sind.

Manche Fehler sind offensichtlich, in anderen Fällen schickt er die Abrechnung an eine externe Codierungs-Expertin weiter, die das medizinische Fachwissen hat, zu entscheiden ob die Codierung korrekt ist. Zum einfacheren Erkennen solcher Fehler gibt es mittlerweile Computersysteme, welche die statistische Wahrscheinlichkeit, dass eine Diagnose mit bestimmten Behandlungen zusammenpasst mit anderen Fällen einer grossen Datenbank überprüft. Ist die Übereinstimmung sehr klein, die Diagnose ungewöhnlich, erscheint im Haugs Bildschirm eine orange oder rote Ampel. Heute sind die meisten Ampeln grün. «In quasi allen Fällen stellen sich die Fehler als Versehen heraus», sagt Haug. «Die Spitäler und Ärzte korrigieren ihre Rechnungen und schicken neue.»

Mit Charme, statt Anwalt

Ärgerlich ist das Phänomen, dass manche Privatkliniken im Zusatzversichererungsbereich viel teurer sind als andere. «Normalerweise gilt bei einem Aufenthalt in der Privatklinik die Faustregel, dass zu den Kosten, welche die Grundversicherung abdeckt, etwa ähnlich hohe Zusatzkosten dazukommen», sagt Haug. Eine Handvoll Kliniken im Raum Genf und Lausanne stellten aber Rechnungen, die bis zu sechsmal so hoch sind.

Dagegen vorzugehen ist schwierig, denn die Privatversicherer werben mit freier Spitalwahl und können die Rechnungen darum nicht einfach ablehnen. «In solchen Fällen versuche ich es auf die freundliche Tour», sagt Haug. Er setzt einen betont höflichen Brief auf, rechnet vor, wie kurz der Eingriff war, und bittet sachlich, die Rechnung doch noch einmal zu prüfen. Häufig klappe das. Einen Prozess hat Haug in all den Jahren nie geführt, sagt er. Das liege aber auch daran, dass im Unfallversicherungsbereich ein ruhigerer Ton herrscht als bei den Krankenversicherung: «Dort ist das Klima zwischen den Spitälern und Ärzten und zwischen den Krankenversicherungen teilweise richtiggehend vergiftet.»

«Das System kann ich nicht heilen, nur Fehler finden.»

Trotz der ständigen Beschäftigung mit Fehlern, vertraut Haug dem Schweizer Gesundheitssystem grundsätzlich: «Die Ärztinnen und Ärzte und die Kliniken halten sich sehr gewissenhaft an die Regeln. Dass systematisch falsch abgerechnet wird, habe ich in all den Jahren nie erlebt.» Das Hauptproblem sei ein anderes: «Unser System ist zwar gut, aber halt auch wahnsinnig teuer. Oft sagen mir Bekannte im Gespräch, ein bestimmter Eingriff habe doch unmöglich so teuer sein können, das müsse ein Fehler sein. Und ich muss sagen: Doch, das kostet tatsächlich so viel!» Diesbezüglich ist er Fatalist. «Das System kann ich nicht heilen, nur Fehler finden.»

Wegen seines Berufs wird der Seemer immer wieder in Gespräche übers Gesundheitssystem verstrickt. Das stört ihn nicht: «Es ist ein wahnsinnig spannendes Thema, das alle betrifft aber kaum jemand versteht.» Er würde daher gerne noch für einige kleinere Krankenversicherungen oder Privatversicherungen seine Dienste anbieten» Nur eins kann Haug aus Datenschutz-Gründen nicht: Rechnungen für Private kontrollieren.

Das Lindberg ist preiswert

Zum Schluss plaudert er doch noch etwas aus dem Nähkästchen: Die Klinik Lindberg, die in Winterthur teils als teuer verschrieen ist, stelle im Vergleich zu anderen Privatkliniken durchaus sehr moderate Rechnungen. «Mir ist es bis heute schleierhaft weshalb die Klinik Lindberg nicht auf die kantonale Spitalliste aufgenommen wurde. Es tut mir manchmal fast weh, wenn sich mein ehemaliger Arbeitgeber so unter Wert verkauft», sagt er augenzwinkernd.

Das Gespräch ist um, Haug loggt sich aus und schliesst das Computerprogramm. Auf den zwei Bildschirmen sind wieder die Enkel, Leonie und Enea zu sehen. Seitdem er seine Abteilung in gute Hände übergeben konnte, sei Grossvater sein eigentlicher Beruf, findet Haug und lächelt.