Steigende Gesundheitskosten
Wirtschaftsprofessor Binswanger: «Auch damit erzeugt man einen perversen Anreiz»

Wirtschaftsprofessor Mathias Binswanger kritisiert die Schweiz: Sie neige dazu, Systeme, die sich im Ausland nicht bewährt haben, zeitlich verzögert auch noch einzuführen. Die heutige Spitalfinanzierung ist für ihn so ein Beispiel.

Mathias Küng
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Mathias Binswanger fände es das Beste, das Fallpauschalensystem wieder abzuschaffen.

Mathias Binswanger fände es das Beste, das Fallpauschalensystem wieder abzuschaffen.

Chris Iseli

Wir treffen Mathias Binswanger in der Kantine der Fachhochschule in Olten für ein Gespräch über Fehlanreize im Gesundheitswesen. Von laut klapperndem Geschirr in der Kantinenküche lässt er sich nicht stören, und erläutert und begründet seine massive Kritik an der heutigen Spitalfinanzierung.

Herr Binswanger, warum bekommen wir die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen nicht in den Griff?

Mathias Binswanger: Der Gesundheitsmarkt ist kein wirklich funktionierender Markt, weil die Bezüger für die meisten Leistungen nicht direkt bezahlen müssen – wir zahlen über die Krankenversicherung. Und es herrscht eine starke Informationsasymmetrie, da die Anbieter von Leistungen, nämlich Ärzte, Spitäler, Pharmahersteller etc., wesentlich besser informiert sind als die Nachfrager, also als die Patienten. Beides zusammen bewirkt eine stetige Tendenz zur Mengenausweitung, da sich auf diese Weise die Nachfrage weitgehend über das Angebot steuern lässt. Weder Leistungsbezüger noch Leistungserbringer sind in diesem System direkt interessiert, diese Mengenausweitung einzudämmen.

Zur Person

Mathias Binswanger ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) in Olten und Privatdozent an der Universität St. Gallen. Er wurde 1962 in St. Gallen geboren. Er hat schon mehrere Bücher geschrieben, unter anderem im Jahr 2010 über «Sinnlose Wettbewerbe - Warum wir immer mehr Unsinn produzieren». Dieses Buch beschäftigt sich laut Beschrieb «mit perversen Anreizen von künstlich inszenierten Wettbewerben vor allem in Forschung, Bildung und im Gesundheitswesen». Binswanger gilt als einer der einflussreichsten Ökonomen in der Schweiz.

Ist der Anstieg nicht bedingt durch Medizinfortschritt und Alterung?

Auch das muss man im Kontext zur Marktsituation im Gesundheitswesen sehen. Der Fortschritt verbessert nicht nur die medizinische Versorgung, sondern dient auch dazu, die Patienten mit stets noch mehr und teureren Produkten und Leistungen einzudecken. Die Altersentwicklung sollten wir hingegen nicht überbewerten. Die meisten Kosten fallen – unabhängig davon, wie alt wir werden – in den letzten beiden Lebensjahren an.

Seit 2012 wird in den Spitälern mit Fallpauschalen abgerechnet. Ist das nicht besser? Früher zahlte man doch, solange man im Spital lag.

Man hat einfach einen alten Fehlanreiz durch neue Fehlanreize ersetzt. Fallpauschalen setzen deutliche Anreize, lukrative Fälle zu generieren.

Letzteres werden Spitalärzte vehement zurückweisen. Sie operieren doch nicht, nur weil es lukrativ ist.

Ja, die Ärzte beklagen sich selbst über dieses System. Sie bekommen aber Druck von oben, weil Spitäler oft selbst unter Spardruck stehen. De facto ist heute die Erzielung eines guten finanziellen Ergebnisses oft das wichtigste Ziel eines Spitals. Und umgekehrt werden die Patienten zu einer Art Portfolio, das es zu optimieren gilt, um das finanzielle Ergebnis zu verbessern. Diese Tendenz ist umso stärker, je mehr man die Spitäler unter finanziellen Druck setzt. Dann nehmen lukrative Operationen zu und die Kosten steigen weiter.

Dann sehen Sie das Fallpauschalensystem als Fehler?

Wir neigen in der Schweiz dazu, Systeme, die sich im Ausland nicht bewährt haben, zeitlich verzögert auch noch einzuführen. Eine Folge dieses Systems ist es auch, dass Akutspitäler Patienten möglichst früh in die Rehabilitation verlegen, um Kosten zu sparen. Die fallen dann aber einfach woanders an.

Sie würden das System abschaffen?

Ja, das wäre das Beste. Wenn schon Fallpauschalen, dann sollten diese über alle Behandlungsstufen hinweg gelten, das heisst auch den ambulanten Bereich und die Rehabilitation miteinbeziehen. Dann wären zumindest die Fehlanreize, zulasten anderer Akteure zu optimieren, geringer. Allerdings würde es organisatorisch wesentlich schwieriger, da dann erhöhter Abstimmungsbedarf entsteht und am Schluss bliebe von der Idee der Pauschale wohl nicht mehr viel übrig.

Wo würden Sie denn den Hebel ansetzen?

Ein möglicher Ansatz sind höhere Franchisen. Wer weitgehend selbst bezahlt, überlegt es sich genauer, ob ein Gang zum Arzt tatsächlich notwendig ist oder ob er bestimmte Untersuchungen machen lässt. Andererseits erhalten aber auch immer mehr Menschen Prämienverbilligungen. Dadurch wird der Spareffekt von höheren Franchisen zum Teil wieder aufgehoben, und das Kostenbewusstsein steigt dann insgesamt doch nicht an.

Was, wenn man aus lauter Kostenbewusstsein zu spät zum Arzt geht?

Auch das ist möglich, und deshalb darf man Franchisen nicht beliebig hoch werden lassen. Man müsste auch Versorgungsmodelle haben, wo sich kostengünstige Vorabklärungen etwa bei Apotheken vornehmen lassen.

Könnten Spitalschliessungen das Kostenwachstum echt bremsen?

Insgesamt gibt es in der Schweiz tatsächlich zu viele Spitäler, und zu viele Spitalbetten. Spitäler zu schliessen, ist aber politisch oft nicht durchsetzbar. Das hat grad im Februar eine Abstimmung im Kanton Neuenburg gezeigt. Also werden wir auch hier in nächster Zeit keinen grossen Spareffekt haben.

Soll man Spitälern zu bestimmten Eingriffen Mindestfallzahlen vorschreiben, damit sie diese Eingriffe noch durchführen können?

Auch damit erzeugt man einen perversen Anreiz. Wenn man Spitälern Mindestzahlen für Operationen vorschreibt, damit sie diese in Zukunft noch durchführen dürfen, dann versuchen diese auf Teufel komm raus die Fallzahlen auch zu erreichen, indem dann im Zweifelsfall auch unnötige Operationen durchgeführt werden.

Sie schlagen eine Anreizverträglichkeitsprüfung vor. Brächte die nicht bloss noch mehr Papierkrieg?

Ja, man müsste bei neuen Systemen, wie bei der Einführung der Fallpauschalen, zuerst die damit verbundenen Anreize überprüfen. So eine Prüfung muss nicht aufwendig sein und verlangt keine neue Behörde. Kommt eine solche Prüfung zum Schluss, dass mit einem System erhebliche Fehlanreize verbunden sind, dann darf dieses so nicht eingeführt werden.

Die FDP will die Kantonsspitäler privatisieren, um die Regierung von einem ihrer Hüte als Besitzer, Leistungsbesteller und Tarifgenehmiger zu entlasten. Ein möglicher Weg?

Das Problem mit den vielen Hüten besteht, aber ich würde vor allem bei der Finanzierungsthematik ansetzen.

Sie sprechen darauf an, dass die Kantone 55 Prozent der Spitalkosten zahlen, die Krankenkassen nur 45 Prozent. Das erhöht doch das Kostenbewusstsein der Kantone?

Diese Kostenaufteilung setzt auch gravierende Fehlanreize. Die Kantone drängen darauf, möglichst viele Menschen ambulant zu behandeln, weil da die Kassen voll zahlen müssen. Für die Versicherungen ist der Anreiz genau umgekehrt. Die Spitäler selbst versuchen wiederum, lohnende Fälle stationär zu behandeln, da es für diese hohe Pauschalen gibt, und wenig lohnende Fälle in den ambulanten Bereich abzuschieben. Um diese Schiebereien zu verhindern, schlage ich vor, dass die Krankenkassen die vollen Spitalkosten zahlen, und die Kantone stattdessen einen fixen Betrag an die Krankenkassen überweisen, um die Prämien nicht ansteigen zu lassen.

Und wie steht es mit der Privatisierung? Ist das eine Lösung?

Bezüglich Privatisierung bin ich skeptisch. Dies führt sehr schnell zu Rosinenpickerei und für die öffentlichen Spitäler verbleiben dann die Patienten und Fälle, die für Privatspitäler nicht attraktiv sind.

Der Kanton müsste den Spitälern natürlich Vorgaben machen, was sie an Service public leisten müssen, um ihre Leistungsaufträge zu bekommen.

Dafür müsste aber eine weitere, teure Überwachungsbürokratie aufgebaut werden. Wenn man zudem beim Privatisieren nicht dafür sorgt, dass kein Anbieter Marktmacht erlangen kann, werden grosse Spitalkonzerne schnell viel Macht bekommen und die Kantone werden von diesen abhängig.

Krankenkassen-Prämienverbilligung: Aargau stimmt am 21. Mai über Erhöhung ab

Die Kosten des Gesundheitswesens steigen und steigen. Ausgehend vom Indexstand 100 im Jahr 1999, kletterte der Krankenversicherungs-Prämienindex für die Grundversicherung bis 2016 auf schwindelerregende 204 Prozent. Die Belastung der Prämienzahlerinnen und - zahler steigt also von Jahr zu Jahr. Gemildert wird dies für viele durch Prämienverbilligungen von Bund und Kanton. Laut Prognose der Kantonsregierung stehen dafür dieses Jahr 203 Millionen Franken des Bundes zur Verfügung und 171 Millionen Franken vom Kanton.

Der SP ist dies viel zu wenig. Am 21. Mai kann das Volk über eine kantonale Initiative der SP abstimmen, die hauptsächlich verlangt, dass der Kanton künftig mehr, nämlich mindestens 80 Prozent des Betrages des Bundes, zur Verfügung stellt. Das würde die Kosten des Kantons im laufenden Jahr um 58, 2018 gar um 68 Millionen Franken erhöhen. Regierung und Grossratsmehrheit lehnen dies ab. Die kantonale Kasse ist leer. Die SP-Initiative würde 4 Steuerprozente kosten oder entsprechende Sparmassnahmen bedingen. (MKU)