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Wirtschaft „Medikamentöse Fixierung“

Demenzkranke müssen ruhiggestellt werden – finden Pfleger

ARCHIV - Eine alte und demenzkranke Frau sitzt am 29.11.2012 in einem Pflegeheim in Frankfurt (Oder) (Brandenburg). Am 11.12.2013 findet in London (Großbritannien) ein erster G8-Gipfel zum Thema Demenz statt. Foto: Patrick Pleul/dpa (zu dpa vom 11.12.2013) +++(c) dpa - Bildfunk+++ | Verwendung weltweit ARCHIV - Eine alte und demenzkranke Frau sitzt am 29.11.2012 in einem Pflegeheim in Frankfurt (Oder) (Brandenburg). Am 11.12.2013 findet in London (Großbritannien) ein erster G8-Gipfel zum Thema Demenz statt. Foto: Patrick Pleul/dpa (zu dpa vom 11.12.2013) +++(c) dpa - Bildfunk+++ | Verwendung weltweit
Demenzkranke alte Frau in einem Pflegeheim
Quelle: picture alliance / dpa
In Deutschland bekommt laut AOK-Pflegereport etwa jeder dritte Heimbewohner Psychopharmaka. Das geschieht offenbar auch, damit die alten Menschen den Pflegekräften weniger Arbeit machen.

Demenzkranke werden in Deutschland einer aktuellen Studie zufolge häufiger mit Medikamenten ruhiggestellt als in anderen europäischen Ländern – und die Pflegekräfte finden dies mehrheitlich in Ordnung. Das ist das Ergebnis einer Studie im Rahmen des aktuellen AOK-Pflegereports, den die Krankenkasse am Mittwoch in Berlin vorgestellt hat.

Demnach erhält mehr als die Hälfte (56 Prozent) der Bewohner von Pflegeheimen regelmäßig Psychopharmaka. Der Befragung unter 2500 Heimen zufolge halten fast neun von zehn Pflegern in den Einrichtungen die Menge dieser Verordnungen für angemessen oder sogar zu niedrig.

Videospiel liefert Erkenntnisse in Demenz-Forschung

Das Computerspiel "Sea Hero Quest" hilft bei der Demenz-Forschung. Denn es zeichnet die Hirnaktivitäten auf und liefert so verwertbare Daten. Es ist die größte Studie der Welt. Jetzt gibt es erste Erkenntnisse.

Quelle: Die Welt

Die Krankenkasse hat in ihrem Report ein Phänomen systematisch untersucht, das seit Jahren in der Pflegebranche kontrovers diskutiert wird: dass demenzkranke Pflegebedürftige offenbar häufig mit Psychopharmaka sediert werden, um „herausforderndes Verhalten“, wie es in der Branche heißt, zu verringern – also um den Pflegern die Arbeit zu erleichtern.

Die „Welt am Sonntag“ hatte 2012 mit einem Report die öffentliche Debatte darüber entfacht: Der renommierte Bremer Pharmaforscher Gerd Glaeske hatte darin auf Basis einer Studie aus Großbritannien geschätzt, dass fast eine Viertelmillion Menschen in Pflegeheimen mit Medikamenten außer Gefecht gesetzt würden, ohne dass damit Krankheiten behandelt würden.

Pflegekräfte wirken auf Ärzte ein

Die aktuellen Zahlen der Krankenkasse zeichnen ein ähnliches Bild. Demnach hat etwa jeder zweite demenzkranke Heimbewohner ein Neuroleptikum verschrieben bekommen, das wären rund 250.000 Menschen.

Glaeske, Professor am Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen, bezeichnet Verschreibungen für Medikamente, ohne dass damit wirksam Krankheiten behandelt werden, als „chemische Gewalt“. Er und andere Kritiker vermuten, dass eine chronische Überlastung der Pflegekräfte die geschätzt hohe Zahl an Verschreibungen begünstigt.

Demenzkranke sind häufig unruhig und schwer unter Kontrolle zu halten, laufen weg oder belästigen andere Heimbewohner. Psychopharmaka allerdings nehmen ihnen den Antrieb, machen schläfrig. Die Betroffenen sitzen dann oft apathisch in ihren Rollstühlen oder liegen im Bett.

Rund zwei Drittel der Heimbewohner sind Daten der AOK zufolge mittlerweile demenzkrank. Forscher Glaeske sprach von einem „flächendeckenden Problem“ und davon, dass hierdurch Personal eingespart werden solle, „um den Heimbetreibern höhere Gewinne zu bescheren“.

60 Prozent aller Pflegeheime fallen negativ auf

Eine Untersuchung hat ergeben: 60 Prozent aller Pflegeheime in Deutschland weisen medizinische Mängel auf. Und das, obwohl offizielle Prüfungen der Krankenkassen ihnen sehr gute Noten geben.

Quelle: Die Welt

Die Forscher des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) untersuchten nun erstmals systematisch die Einstellung der Pflegekräfte in den Einrichtungen zu solchen Verschreibungen. Als erstaunlich bezeichnen die Autoren, dass rund 85 Prozent der Pflegekräfte angaben, häufig oder gelegentlich bei Besuchen im Heim auf Ärzte einzuwirken, damit diese die Psychopharmaka verschrieben.

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Der Einsatz von Psychopharmaka bei alten Menschen ist auch aus anderen Gründen umstritten: Viele der Mittel gelten laut ärztlichen Behandlungsleitlinien als gefährlich für Hochbetagte. „Es existiert eine Diskrepanz zwischen den restriktiven Anwendungsempfehlungen dieser Medikamente und der tatsächlichen Verordnungshäufigkeit“, urteilt die Pharmakologin Petra A. Thürmann, Professorin an der Universität Witten/Herdecke, die ebenfalls am aktuellen Pflegereport der Kasse mitgewirkt hat.

Argumente für einen richterlichen Beschluss

Thürmann hat dafür die internationale Studienlage zu diesem Thema ausgewertet. Eine EU-weite Befragung kam etwa zu dem Ergebnis, dass im europäischen Vergleich in Deutschland auffällig oft die starken Medikamente an Heimbewohner mit Demenz verabreicht werden, und zwar „in Kenntnis der damit verbundenen Risiken“, resümiert die Wissenschaftlerin.

Demnach erhalten 67 Prozent der Pflegeheimbewohner mit Demenz ein für sie potenziell gefährliches Medikament, darunter besonders häufig das starke Neuroleptikum Risperidon.

Pflegewissenschaftler nennen Medikamentenverordnungen, bei denen es nicht um die wirksame Behandlung von Krankheiten, sondern vorrangig um eine Erleichterung für das Pflegepersonal geht, auch „medikamentöse Fixierung“.

Sie sei vergleichbar mit Fällen, in denen Heimbewohner etwa mit Gittern oder Haltegurten an Bett oder Rollstuhl fixiert werden, um nicht weglaufen zu können. Um dies tun zu dürfen, muss einer Einrichtung ein richterlicher Beschluss vorliegen. Derselben Logik, argumentiert etwa Professor Glaseke, müsse die Verordnung von Psychopharmaka folgen.

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