Gebären
Eine normale Geburt zahlt sich für die Spitäler nicht aus

Kinder müssen heute schnell, ökonomisch und medizinisch zur Welt kommen. Ein Provinz-Spital widersetzt sich.

Veronica Bonilla Gurzeler
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Die Geburt ist kein Wettrennen um Effizienz, sondern braucht Zeit. In kleinen Spitälern wie jenem in Ilanz sind die Frauen oft zufriedener.

Die Geburt ist kein Wettrennen um Effizienz, sondern braucht Zeit. In kleinen Spitälern wie jenem in Ilanz sind die Frauen oft zufriedener.

Thinkstock

Einmal in der Stunde hält die Rhätische Bahn, von Chur kommend, in Ilanz am Vorderrhein. Dort, im kleinen Regionalspital Surselva, leisten sie sich eine Geburtshilfe, die es eigentlich gar nicht mehr geben dürfte. Weil die Abteilung zu klein ist. Und damit weder wirtschaftlich noch medizinisch sinnvoll. So zumindest sehen es die Gesundheitsökonomen, die seit Jahren darauf drängen, mehr Wettbewerb ins Gesundheitssystem zu bringen.

174 Kinder wurden 2016 im Spital Ilanz geboren, theoretisch knapp jeden zweiten Tag eins. In der Praxis jedoch oftmals zwei am Tag und dann wieder fünf Tage lang gar keins. Die Geburtszahlen haben in den letzten Jahren tendenziell zugenommen. Sogar Frauen aus Chur, denen das dortige Kantonsspital zu gross ist, nehmen den Weg nach Ilanz auf sich.

Sechs Hebammen in Teilzeit und fünf Belegärzte gewährleisten, dass rund um die Uhr geboren werden kann. Ärzte werden von den Hebammen nur gerufen, wenn eine Geburt kurz bevorsteht oder es Komplikationen gibt.

«Das gegenseitige Vertrauen ist gross», sagt Stationsleiterin Carmen Parpan, die selber im Spital Ilanz geboren wurde. «Wir Hebammen arbeiten sehr eigenständig, doch die Gynäkologen stehen voll hinter uns.» Sie würden fast wie in einem Geburtshaus arbeiten, bieten aber die Absicherung eines Spitals. Kaiserschnitt oder PDA sind jederzeit möglich, wenn nötig oder gewünscht. Doch das ist deutlich seltener der Fall als in den meisten anderen Spitälern. Die Kaiserschnittrate ist mit 17 Prozent nur halb so hoch wie der Schweizer Durchschnitt von 33 Prozent.

Weniger Schmerzmittel nötig

«Man weiss, dass es bei einer 1:1-Betreuung weniger Interventionen und weniger Schmerzmittel braucht», sagt Carmen Parpan. «Es ist Hebammenkunst, was wir hier machen», fügt sie in ihrer charmanten Art an. Und erklärt: «Wir brauchen zwar den Wehenschreiber, verlassen uns aber nicht allein auf die Technik. Das CTG stellen wir nach einer halben Stunde wieder ab, sodass sich die Frau frei bewegen kann. Wir nutzen unsere Hände und unsere geschulten Sinne, um wahrzunehmen, was die Gebärende braucht.» Hier werde auf allen vieren geboren und ebenso im Stehen. Aber auch in der Gebärwanne oder auf dem verstellbaren Gebärbett. Einfach so, wie es der Frau am wohlsten ist. Sogar Kinder in Steisslage oder Zwillinge können hier noch normal geboren werden, eine Seltenheit heutzutage. Den meisten Geburtshelfern fehlen dafür sowohl die Erfahrung als auch die nötige Unerschrockenheit.

Trotz oder paradoxerweise vielleicht auch, weil Gebären in Ilanz auf natürliche Art unspektakulär ist: Die Geburtsabteilung ist defizitär. Seit 2012 das Abrechnungssystem Swiss DRG eingeführt wurde, erhalten die Spitäler nicht mehr die individuell anfallenden Kosten vergütet, sondern Fallpauschalen, deren Höhe sich nach den Diagnosen richtet, die der Arzt oder die Ärztin stellt.

Für Spitalaufenthalte während Schwangerschaft und Geburt gibt es insgesamt 25 verschiedene Fallpauschalen, die unterschiedlich viel Geld einbringen. Die spontane, komplikationslose Geburt bringt etwa einen Drittel weniger als ein geplanter Kaiserschnitt und sechsmal weniger als ein Kaiserschnitt mit mehreren komplizierten Diagnosen.

Man braucht keine höhere Bildung, um zu begreifen: Je mehr und je teurere Diagnosen gestellt werden, desto lukrativer das Geschäft. In Deutschland, wo die Fallpauschalen bereits 2004 eingeführt wurden, haben etwa Knie- oder Hüftoperationen deutlich zugenommen.

Die Schwierigkeit einer Geburtsabteilung ist, dass Gebären in der Regel nicht planbar ist. Niemand weiss, wann es losgeht oder wie lange es dauert. Ob die Mutter plötzlich einen Krampfanfall erleidet und ein Notkaiserschnitt nötig wird oder welches Ungeborene mit der Schulter auf halbem Weg nach draussen steckenbleibt. Solche Situationen erfordern, dass in einer Geburtsabteilung rund um die Uhr das Notfalldispositiv greifen muss.

Das kostet. Der Leiter einer Universitätsklinik für Geburtshilfe, der nicht genannt werden will, skizziert, wie eine ökonomisch optimal ausgerichtete Abteilung funktionieren müsste: «Am wirtschaftlichsten wäre es, wenn alle Frauen einen geplanten Kaiserschnitt hätten. So könnten wir von Montag bis Freitag von 9 bis 17 Uhr im Halbstundentakt operieren. Nachts und am Wochenende würde eine minimal besetzte Notfallabteilung genügen.»

Wettbewerb um attraktive Fälle

Es ist kein Geheimnis: Swiss DRG wurde eingeführt, um den Spardruck auf die Spitäler zu erhöhen und den Kostenanstieg zu bremsen. «Es ist nicht unethisch, wenn man auch ans Geld denkt», sagt die Zürcher Gesundheitsökonomin Anna Sax. Mit den Fallpauschalen werde die Optimierung von Prozessen gefördert, zum Beispiel würden Untersuchungen nicht mehr doppelt durchgeführt. Spitäler seien aber keine Fabriken und die Toyota-Philosophie der Kostenvermeidung um jeden Preis fehl am Platz: «Gewinn erwirtschaften zu müssen, führt dazu, dass man in Wettbewerb um attraktive Patienten tritt, den Operationssaal möglichst optimal auslastet oder unnötige Behandlungen und Medikamente verordnet.»

Was beim einseitigen Blick auf die Zahlen verloren gehen kann, weil es weder gemessen noch beziffert wird, ist die Menschlichkeit. Wer sagt, ich nehme mir Zeit, ist nicht wirtschaftlich. Geburten werden deshalb von Ärzten auch aus Zeitgründen medikamentös eingeleitet oder beschleunigt − ohne Rücksicht auf die Frau, die von den heftigen Schmerzen überrollt und oft traumatisiert wird, wie Berichte immer wieder zeigen.

In Geburtshäuern und kleineren Spitälern passiert dies nicht oder deutlich seltener. Die Gebärende wird dort unterstützt, den Geburtsprozess in Ruhe zu durchlaufen. Kein Wunder deshalb: Kleine Landspitäler und Geburtshäuser schneiden bei Patientinnenumfragen bezüglich Zufriedenheit am besten ab. «Wir stellen den Mensch in den Mittelpunkt», steht im Leitbild des Spitals Ilanz, und es scheinen keine leeren Worte zu sein. Gespräche mit Wöchnerinnen, die das Personal und den Umgang auf der Geburtsabteilung loben, bestätigen es. Auch dass sie ohne Not fünf Tage lang bleiben können, um sich zu erholen, statt wie in grösseren Institutionen bloss noch zwei bis drei Tage.

Auftrag der Bevölkerung

Möglich ist dies, weil die Bevölkerung vielerorts hinter ihren Spitälern steht. Zum Beispiel weil sie zu wenig einträgliche Privatpatienten haben, wie etwa die Zürcher Stadtspitäler Triemli und Waid, deren Defizite die Steuerzahler finanzieren. Oder weil unkomplizierte Geburten nicht genug Geld einbringen, wie es im Kanton Graubünden gleich mehrere Landspitäler erleben, die sich eine kleine Geburtsabteilung leisten.

Marcus Caduff, Ilanzer Spitaldirektor seit Anfang 2017, macht keinen Hehl daraus, dass ihn der Minusbetrag in der Rechnung nicht freut. Die Gebärabteilung deswegen zu schliessen, kommt aber nicht infrage. «Wir haben einen Leistungsauftrag», sagt der 43-Jährige, der ebenfalls im Val Lumnezia aufgewachsen ist. «Die 18 Gemeinden in der Region Surselva haben beschlossen, dass zur Basisversorgung der Bevölkerung auch eine Geburtsabteilung gehört, deren Defizit sie tragen.»

Die Befürworter von mehr Markt im Gesundheitswesen sehen das nicht gern, sie finden, das verzerre den Wettbewerb. Doch vielleicht ist es gar nicht so unklug, sich dem Konkurrenzstreben zu widersetzen? «Es ist wissenschaftlich nicht erwiesen, dass mehr Wettbewerb mehr Wirtschaftlichkeit bringt», sagt Anna Sax. Aus der Perspektive der Frauen wäre ein Umdenken jedenfalls wünschenswert.