Studie: Selektivverträge steuern RSA-Diagnosen an

Krankenkassen schließen Versorgungsverträge bevorzugt für Diagnosen ab, die im morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) relevant sind. Ärzten, die an diesen Verträgen teilnehmen, bringt dies zusätzliche Vergütungen in Höhe von mehreren hundert Millionen Euro pro Jahr. Dieser Zusammenhang hatte starke politischen Diskussionen ausgelöst. Den Verträgen wurde unterstellt, RSA-Zuweisungen der Kassen zu beeinflussen. Jüngste gesetzliche Änderungen sollen die vermutete Manipulationswirkung dieser Verträge eindämmen. Die IGES-Experten halten die getroffenen Maßnahmen aber noch nicht für ausreichend.

Berlin, 11. April 2017 (IGES Institut) - Das geht aus einer Studie des IGES Instituts hervor, die im Auftrag eines Verbundes aus mehreren Betriebs-, Ersatz- sowie Innungskrankenkassen entstand. Sie untersucht, ob die Krankheitslisten, auf die sich die Versorgungsverträge beziehen, vor allem finanzwirksame Krankheitsklassifizierungen adressieren. Dabei geht es um die Kodierung der 80 Krankheiten, die im Ausgleichssystem der Krankenkassen, dem morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA), finanziell besonders berücksichtigt werden.

Ausmaß der RSA-Orientierung wird gezeigt

„Ziel der Studie ist es, die Verbreitung und das Ausmaß der RSA-Orientierung von Versorgungsverträgen zu analysieren. Dabei ist natürlich zu bedenken, dass RSA-relevante Diagnosen Krankheiten mit einem intensiven Behandlungsbedarf repräsentieren. Derartige Krankheiten gibt es jedoch auch jenseits des RSA-Ausgleichs. Wenn nur solche Krankheiten vergütet werden, die im RSA enthalten sind, verdient das genauere Betrachtung“, sagt Dr. Karsten Neumann, Geschäftsführer am IGES Institut und Studienautor.

Mehr als 100 Versorgungsverträge analysiert

Um Größenordnungen festzustellen, haben die IGES-Experten mit Stand Ende 2016 35 öffentlich verfügbare Betreuungsstrukturverträge und 72 ebenfalls veröffentlichte Verträge zur Hausarztzentrierten Versorgung (HzV) aus dem gesamten Bundesgebiet systematisch analysiert.

Die Mehrzahl der Betreuungsstrukturverträge vergütet fast ausschließlich solche Diagnosen, die im Morbi-RSA zu zusätzlichen Zuweisungen führen. Bei einigen Verträgen zeigt sich eine fast 100-prozentige Übereinstimmung. Auch bei den HzV-Verträgen reichen die durchschnittlichen Anteile der vergüteten Diagnosen, die zugleich Morbi-RSA-Diagnosen sind, von 94 Prozent in Bayern bis zu 73 Prozent in Baden-Württemberg.

Die IGES-Wissenschaftler haben zudem umgekehrt aus der Perspektive des Morbi-RSA geschaut, wie viele Morbi-RSA-Diagnosen sich in den Verträgen wiederfinden. Diese Werte liegen generell niedriger, da manche Krankheiten über stationäre Aufenthalte schon zuverlässig erfasst werden: In Schleswig-Holstein etwa sind nur 38 Prozent aller RSA-Diagnosen in Betreuungsstrukturverträgen berücksichtigt. In Thüringen finden sich hingegen 77 Prozent in einem HzV-Vertrag.

Größenordnung der Vergütungen für Diagnosekodierungen geschätzt

In den Verträgen sind auch die Vergütungen definiert, die Ärzte für die Kodierung von Patienten mit den entsprechenden Diagnosen erhalten. Um die Größenordnung der dafür aufgewendeten Beträge zu schätzen, haben die IGES-Experten exemplarisch die Höhe dieser Vergütungen in einer repräsentativen Region herangezogen und bundesweit hochgerechnet. Eingeflossen sind unter anderem die Zahlen potenziell betroffener Patienten und die Teilnahmequoten an derartigen Verträgen. Nach dieser Abschätzung beträgt die Vergütung auf Bundesebene gut 258 Millionen Euro für Betreuungsstrukturverträge und 33 Millionen Euro für HzV-Verträge, zusammen jährlich rund 291 Millionen Euro.

Die Autoren weisen in der Studie auf mögliche Interessenskonflikte und Fehlsteuerungen durch derartige Versorgungsverträge hin. Die verschiedenen Krankenkassen hätten etwa in Abhängigkeit von Größe und Marktmacht unterschiedliche Chancen, solche Verträge abzuschließen und erfolgreich umzusetzen.

Mögliche Folgen des Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz (HHVG)

Das jüngst verabschiedete Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz (HHVG) hat auf den sozialpolitisch nicht erwünschten Wettbewerb um die bessere Kodierung reagiert. Es verbietet unter anderem gezielte Vergütungen für Diagnosen in Gesamt- und Selektivverträgen oder die Diagnosebeeinflussung durch Kodierberatung der Ärzte oder mit Hilfe von bereitgestellter Praxissoftware der Krankenkassen.

Das Verbot der Betreuungsstrukturverträge könnte nach Auffassung der IGES-Experten dazu führen, dass die Fokussierung auf RSA-relevante Diagnosen nun verstärkt mit HzV-Verträgen angestrebt werden. „Die Studie beschreibt die Situation vor den jüngsten Gesetzesänderungen. Wie das HHVG nun das Vertragsgeschehen beeinflussen wird, bleibt abzuwarten“, sagt Neumann. Auch zweifeln sie, ob der Fehlgebrauch von Praxissoftware ausreichend kontrollierbar ist. Die derzeitige Zertifizierung von Praxisoftware durch die Kassenärztliche Bundesvereinigung entsprechend anzupassen, könnte den Studienautoren zufolge ein effektiver Ansatz sein, Unterschiede in der Kodierqualität zu vermeiden. Aufsichtsbehörden sollte es zudem leichter gemacht werden, Gesetzesverstöße schneller zu finden und zu sanktionieren.