AMBULANT VOR STATIONÄR: Ärzte ärgern sich über «Blindflug»

Ein Pilotprojekt der Ärzteschaft soll aufzeigen, was Operationslisten bringen – und was nicht. Es brauche nun Fakten statt blosse Annahmen, fordern Ärztevereinigungen.

Balz Bruder
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Blick in einen Operationssaal im Kantonsspital Stans. (Symbolbild: PD)

Blick in einen Operationssaal im Kantonsspital Stans. (Symbolbild: PD)

Balz Bruder

balz.bruder@luzernerzeitung.ch

Zahlen die Krankenversicherten die Zeche dafür, wenn die Kantone Listen von Operationen erstellen, die in der Regel ambulant statt stationär durchgeführt werden? Ja, findet der Krankenkassenverband Curafutura. Derweil sich die Kantone ihren Finanzierungsanteil für stationäre Spitalbehandlungen sparten, würden die Versicherten bei ambulanten Eingriffen geschröpft. Kostenpunkt: 45 Millionen Franken – dies für den Fall, dass die Operationslisten, wie sie in den Kantonen Luzern und Zürich bestehen, schweizweit angewendet würden.

Zur Illustration: 9 von 13 Eingriffen, welche auf der Liste des Luzerner Gesundheitsdirektors Guido Graf stehen, sind laut Curafutura-Direktor Pius Zängerle teurer, wenn sie ambulant statt stationär stattfinden (wir berichteten).

Die Situation zwischen dem Kanton, der diese Berechnungen in Zweifel zieht, und den Krankenversicherern, die eine weitere Kostensteigerung befürchten, ist verfahren. Doch nun kommt Bewegung in die Sache: Die Verbindung Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH) und der Verband chirurgisch und invasiv tätiger Ärztinnen und Ärzte (FMCH) haben ein Pilotprojekt ausgearbeitet, in dessen Rahmen mit einer Begleitstudie insbesondere die Kosteneffekte des Prinzips ambulant vor stationär eruiert werden sollen – und zwar unter Ausklammerung der Fehlanreize im System. Konkret: Sowohl die unterschiedliche Honorierung (Tarmed ambulant, Fallpauschalen stationär) als auch die unterschiedliche Finanzierung (Krankenkassen ambulant, Kassen und Kanton stationär) sollen eliminiert werden. Denn nur so ist festzustellen, wann ambulant beziehungsweise stationär mehr oder weniger angezeigt ist – und mit welchen medizinischen, sozialen und finanziellen Folgen.

Zwischen Ärzten, Bund und Kantonen laufen Gespräche

«Wir stehen mit dem Bundesamt für Gesundheit, den Gesundheitsdepartementen von Luzern und Zürich sowie mit verschiedenen Krankenkassen in konstruktiven Gesprächen», bestätigt FMCH-Präsident Josef E. Brandenberg, «das Pilotprojekt soll möglichst bald gestartet werden.» Dringlich ist es für die Ärzteschaft deshalb, weil es nun Fakten statt Annahmen darüber brauche, was ambulant vor stationär bringt (oder eben auch nicht). Oder, mit anderen Worten: Es bringt nichts, wenn sich Gesundheitsdirektoren und Krankenversicherer über Zahlen streiten, die blossen Projektionen entspringen.

Der Luzerner Orthopäde Brandenberg findet deutliche Worte: «Es wird im Blindflug experimentiert. Würden wir Ärzte auf diese Art und Weise Chirurgie betreiben, wären wir längst im Gefängnis.» Was er damit meint: «Weder in Luzern noch in Zürich konnte man uns sagen, was mit den freiwerdenden Spitalbetten geschieht, wenn mehr ambulant statt stationär behandelt wird.» Just dies sei aber der Kernpunkt: «Einzig die nicht belegten Betten machen die Differenz zum ambulanten Operieren und damit die Ersparnis aus», führt Brandenberg aus.

Die Fragen liegen also auf dem Tisch: Was kann effektiv gespart werden? Welchen Aufwand verursachen allfällige Nachbehandlungen? Wie oft muss aus medizinischen Gründen von ambulant auf stationär gewechselt werden? Wie oft sind soziale Gründe beziehungsweise die Lebensumstände der Patienten verantwortlich dafür, dass eine stationäre statt ambulante Behandlung stattfinden muss? Wie hoch sind die Komplikationsraten ambulant und stationär bei identischen Operationen? Die Antworten soll das Pilotprojekt mit Begleitstudie liefern.

Hartes Ringen um einen Kompromiss

Die Ergebnisse dürften auch von der Bundespolitik mit Interesse zur Kenntnis genommen werden. Denn sie doktert seit Jahren an der unterschiedlichen Finan­zierung herum. Machen die ­Krankenkassen Druck auf die einheitliche Finanzierung von ambulanten und stationären Behandlungen, sperren sich die Kantone dagegen. Sie halten nichts von der Verschiebung öffentlicher Gelder zu den Krankenkassen und setzen sich stattdessen für Kostendämpfungen ein – eben gerade durch mehr (günstigere) ambulante und weniger (teure) stationäre Eingriffe. Schon heute absehbar: Um einen tragfähigen Kompromiss zwischen Kassen und Kantonen wird hart gerungen werden.