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Mordserie des Pflegers Niels Högel "Die Erkenntnisse sprengen jegliche Vorstellungskraft"

Die Polizei macht den bereits in früheren Fällen verurteilten Ex-Krankenpfleger Niels Högel für 84 weitere Morde verantwortlich. Und das sei nur die Spitze des Eisbergs.
Niels Högel (Archiv)

Niels Högel (Archiv)

Foto: Ingo Wagner/ dpa

Fast drei Jahre dauerten die Ermittlungen der Sonderkommission "Kardio", nun haben Staatsanwaltschaft und Polizei in Oldenburg ihre Ergebnisse präsentiert . Sie legen dem Ex- Krankenpfleger Niels Högel mindestens 90 Mordtaten zur Last. Es handelt sich laut Ermittlern um die schlimmste Mordserie in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg. Die zentralen Fragen und Antworten im Überblick:

  • Wie handelte Niels Högel?

In Kliniken in den niedersächsischen Städten Oldenburg und Delmenhorst spritzte Högel schwerkranken Patienten für sie ungeeignete Medikamente - in einigen Fällen etwa Dutzende Milliliter des Herzmittels Gilurytmal. Das Medikament mit dem Wirkstoff Ajmalin kann lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen, Kammerflimmern und Blutdruckabfall verursachen. Laut Ermittlern verabreichte er auch andere Herzmedikamente, Betablocker, Betäubungsmittel - oder vergiftete die Opfer mit Kaliumchlorid. Wenn sich der Zustand eines Patienten verschlechterte, reanimierte der Pfleger sie - offenbar, um vor seinen Kollegen als Retter dazustehen. In zahlreichen Fällen misslang dies.

  • Weswegen wurde er bereits verurteilt?

Niels Högel sitzt in Haft. 2015 wurde er wegen Mordes, versuchten Mordes sowie gefährlicher Körperverletzung zu lebenslanger Haft verurteilt. Er erhielt ein Berufsverbot auf Lebenszeit. Bereits 2008 hatte das Landgericht Oldenburg ihn wegen versuchten Mordes zu einer Freiheitsstrafe von siebeneinhalb Jahren verurteilt. Im zweiten Prozess 2015 räumte der heute 40-Jährige zahlreiche weitere Taten ein. Auf massiven Druck der Angehörigen befassten sich Ermittler schließlich erneut mit dem Krankenpfleger.

  • Welche Vorwürfe sind neu?

Die Staatsanwaltschaft ließ insgesamt 134 Menschen exhumieren , um nach Spuren der Medikamente zu suchen. Sie war zwischenzeitlich bereits von Dutzenden nachgewiesenen Tötungsdelikten ausgegangen - weitete die Ermittlungen aber noch mal aus. Nun haben die Ermittler das gesamte aus ihrer Sicht nachweisbare Ausmaß der Mordserie präsentiert: Zusätzlich zu den verurteilten Tötungen beging Högel demnach mindestens 84 weitere Morde.

Chronologie

"Die Erkenntnisse, die wir dabei gewinnen konnten, erschrecken noch immer - ja, sie sprengen jegliche Vorstellungskraft", sagte Oldenburgs Polizeipräsident Johann Kühme. Die Zahl der tatsächlichen Morde liege wahrscheinlich noch viel höher als 90, weil viele Patienten eingeäschert worden seien. "Die Morde, die wir belegen können, sind nur die Spitze des Eisberges", sagte Soko-Chef Arne Schmidt. Etwaige Taten aus Högels Zeit in einer Klinik in Wilhelmshaven oder während seines Einsatzes im Rettungsdienst konnten laut der Ermittler nicht mehr aufgeklärt werden.

  • Was sagt der Täter?

Högel wurde zu den Ergebnissen der Ermittler laut Polizei insgesamt sechsmal vernommen. Der Pfleger habe eine Vielzahl von Geständnissen abgelegt. In den meisten Fällen habe er sich aber nicht mehr konkret erinnern können, schloss die Taten aber auch nicht aus.

  • Wie konnte Högel so lange töten?

In den betroffenen Krankenhäusern herrschte offenbar jahrelang eine Kultur des Wegschauens. "Die Morde hätten verhindert werden können", sagte Polizeipräsident Kühme. "Im Klinikum Oldenburg wusste man um die Auffälligkeiten." Gegen Verantwortliche an dem Klinikum wird noch ermittelt. Dort gab es eine Statistik, die zeigte, dass während Högels Schichten die Sterberate und die Zahl der Reanimationen stieg. Doch anstatt ihn bei der Polizei zu melden, lobte die Klinik ihn mit gutem Arbeitszeugnis weg. Die Klinik in Delmenhorst wurde nicht gewarnt. Auch an seinem neuen Arbeitsplatz fiel Högel auf - mehrere Mitarbeiter hätten ihn aber einfach weiterarbeiten lassen. Unter anderem gegen zwei frühere Oberärzte und den Stationsleiter aus Delmenhorst wurde im Winter Anklage wegen Totschlags durch Unterlassen erhoben.

  • Warum dauerten die Ermittlungen so lange?

Eine schnellere Aufklärung sei "gescheitert an der Unfähigkeit, das Unglaubliche zu glauben", sagte Richter Sebastian Bührmann bereits im Prozess 2015. Die Nebenkläger bat er damals um Entschuldigung. Als die Soko "Kardio" ihre Ermittlungen schließlich aufnahm, sah sie sich mit einer Unmenge Material konfrontiert: Die Polizisten werteten mehr als 800 Rettungsdienstprotokolle aus, überprüften über 500 Patientenakten - und leiteten 332 Strafverfahren wegen Mordverdachts ein. 289 rechtsmedizinische Gutachten wurden in Auftrag gegeben, auf insgesamt 67 Friedhöfen in Norddeutschland und Nordrhein-Westfalen mussten Leichen exhumiert werden. Allein dafür arbeiteten die Beamten insgesamt mehr als 10.000 Stunden lang.

  • Welche Rolle spielen die Krankenhäuser?

Niels Högels Mordserie hat eine Debatte über die Sicherheit in Krankenhäusern entfacht. Die Deutsche Stiftung Patientenschutz warf Högels Umfeld angesichts der Mordserie Versagen vor. "Sowohl Kolleginnen und Kollegen, Arbeitgeber als auch Polizei und Justiz haben zu lange weggeschaut", teilte Vorstand Eugen Brysch mit. Trotz dieser "wohl größten Mordserie in Nachkriegsdeutschland" seien in vielen Krankenhäusern "die Kontrollmechanismen nicht verschärft" worden, bemängelte er. Oft fehle "weiterhin ein anonymes Meldesystem". Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe dagegen hatte vor einem Kontrollwahn an deutschen Krankenhäusern gewarnt. Diese Position hat der CDU-Politiker nun nochmals bekräftigt: Gegen Pflegerinnen und Pfleger dürfe es keinen Generalverdacht geben, sagte er der Oldenburger "Nordwest-Zeitung". Gröhe räumte demnach aber auch ein: "Dass diese Fälle erst jetzt ans Licht kommen, zeigt, wie unglaublich schwer solche Mordversuche oder Morde zu ermitteln und zu belegen sind."

apr/dpa/AFP