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Uniklinik: Pfleger leiden – Patienten auch?

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Es sind besorgniserregende Zustände, die zwei Pfleger aus dem Gießener Uniklinikum schildern. Und die Vorwürfe sind nicht neu.

Peter Müller ist Krankenpfleger im Uniklinikum. Station IMC, Innere Medizin. Müller heißt in Wirklichkeit anders, seinen echten Namen zu nennen, würde ihn aber vermutlich den Job kosten. Trotzdem will er reden. Die Missstände im Pflegebereich der Klinik seien zu erheblich, als dass er sie totschweigen könnte. »Wir sind so überlastet, dass wir den Tag kaum überstehen. Wir können uns nur um die wichtigsten Dinge kümmern. Das führt dazu, dass der Patient eben mal nicht gewaschen, der Verband nicht gewechselt wird. Die Hygiene kommt zu kurz.« Müller hält kurz inne. Dann fügt er hinzu: »Wir machen Sachen, wodurch Patienten zu Schaden kommen könnten.« Betriebsrat: Über 500 Überlastungsanzeigen

Aussagen mit Sprengkraft. Und sie sind nicht neu: Bereits im Dezember hatte diese Zeitung über die Problematik berichtet. Die Geschäftsleitung teilte seinerzeit mit, dass sie schon seit zwei Jahren im Dialog mit der Gewerkschaft Verdi zu Fragen der Arbeitsbedingungen in Kontakt stehe. 2015 habe es eine Mitarbeiterbefragung zu psychischen und physischen Belastungen gegeben. Nach der Auswertung habe man mit ersten Veränderungsschritten begonnen.

Dann wird der Patient eben nicht gewaschen

Ein Pfleger

Doch davon scheinen die Mitarbeiter nichts zu merken. Im Gegenteil: »Es wird immer schlimmer«, sagt der stellvertretende Betriebsratsvorsitzende Rainer Burger. Als Beleg führt er die gestiegene Zahl der Überlastungsanzeigen an. »In den vergangenen drei Jahren hat sich die Zahl fast verdoppelt. In diesem Jahr werden es wohl deutlich über 500 sein.« Überlastungsanzeigen sind gesetzlich vorgeschriebene Formulare, in denen Mitarbeiter auf Probleme am Arbeitsplatz hinweisen können. Dieser Zeitung wurden 16 solcher Bögen anonym zugespielt. Allesamt stammen aus der Station IMC, Innere Medizin. Allesamt haben ein Häkchen im Feld »Personalmangel« gesetzt. Alle Anzeigen haben den gleichen Tenor: »Ich kann meine Arbeit nicht ordnungsgemäß machen und meine Patienten adäquat versorgen.«

Wir glauben nicht mehr, dass sich dadurch etwas ändert

Ein Pfleger

Vermutlich wären es noch viel mehr Anzeigen, wenn die Pflegekräfte nicht schon völlig desillusioniert wären. »Sie zeigen längst nicht mehr jeden Missstand an, sondern nur noch, wenn sie sich über längeren Zeitraum häufen«, sagt Burger. Müller nickt zustimmend. »Wir glauben nicht mehr daran, dass sich dadurch etwas bessert. Wir füllen die Bögen nur noch aus, um uns juristisch abzusichern.« Denn andernfalls könnte das Personal bei einer durch eine Überlastung herbeigeführte Schädigung des Patienten haftbar gemacht werden.

Der Pflegenotstand ist kein exklusives Problem der Gießener Uniklinik. In vielen Krankenhäusern des Landes klagen Mitarbeiter über Personalmangel, zu große Belastungen und zu wenig Zeit, um sich um die Patienten zu kümmern. Im europaweiten Vergleich des Patienten/Pfleger-Verhältnisses ist Deutschland laut Burger sogar Schlusslicht.

Und trotzdem habe das UKGM ein Alleinstellungsmerkmal, sagt er. Demnach erhalte die Klinik zwar Zuschüsse von Bund und Land für Forschung und Ausbildung, jedoch nicht für Neubauten, Instandsetzungen oder Investitionen in die Ausstattung. »Das ist deutschlandweit einmalig«, sagt Burger und führt die Besonderheit auf den Privatisierungsprozess zurück, der 2006 abgeschlossen wurde. Burger sagt, der heutige Betreiber, die Rhön-Klinikum AG, habe seinerzeit auf die Zuschüsse verzichtet. »Vermutlich, um sich im Bieterwettbewerb einen Vorteil zu verschaffen. Die heutigen Verantwortlichen würden die Vereinbarung vermutlich liebend gerne rückgängig machen.« Durch die fehlenden Subventionen herrsche ein besonders hoher Kostendruck, sagt Burger. Die Folge: Durch die Patientenversorgung müsse genügend Geld eingenommen werden, um auch die anderen Ausgaben zu finanzieren.

Wir schaffen die Arbeit wenn überhaupt nur, wenn wir uns selber ausbeuten

Ein Pfleger

Derzeit kämen auf der IMC Station sechs bis zehn Patienten auf einen Pfleger. Burger: »Besser wären zwei bis drei.«

Nicht verwunderlich, dass auch die Pfleger leiden. Müller erzählt, dass er regelmäßig auf seine Pause verzichte, um auch nur annähernd die Aufgaben bewältigen zu können. »Wir haben immer mehr ältere und schwer kranke Patienten zu versorgen. Da ist der Pflegeaufwand deutlich höher. Wir schaffen die Arbeit wenn überhaupt nur, wenn wir uns selber ausbeuten.« Das sagt auch Arno Wagner, der wie Müller im wirklichen Leben anders heißt. Im Gegensatz zu seinem Kollegen übt er den Beruf aber noch nicht sehr lange aus. »Trotzdem bin ich schon desillusioniert. Die Bedingungen und der Zeitdruck lassen nicht zu, dass man sich so um die Patienten kümmert, wie man es möchte.« Da er den Frust nicht an den Patienten auslassen wolle, fresse er ihn in sich hinein. »Manchmal lässt man ihn dann abends an den Familienangehörigen aus.« Ob der den Beruf auch in 30 Jahren noch ausüben will? Wagner überlegt einen Moment. »Ich glaube nicht, dass ich das durchhalte.«

Der stellvertretende Betriebsratsvorsitzende Burger kann das nachvollziehen. »Wir erhalten immer mehr Anfragen von Mitarbeitern, die sich über die Kündigungsbedingungen informieren.« Auch Müller spricht von einer großen Fluktuation, besonders bei den jungen Kollegen. Er kann es ihnen nicht verdenken: »Wir Älteren haben überhaupt keine Zeit, sie einzuarbeiten. Sie werden ins kalte Wasser geworfen und sind überfordert. Die jungen Leute werden verheizt.« Wenn das so weitergehe, werde sich der Fachkräftemangel radikal verschärfen, ist der Pfleger überzeugt. »Das tut sich doch keiner mehr an.«

Die beiden Pfleger betonen mehrfach, dass sie ihre Arbeit eigentlich sehr gerne ausüben. Umso belastender sei es für sie zu wissen, dass sie die Patienten nicht so versorgen können, wie sie es gerne täten. »Das geht den meisten so«, sagt auch Burger. »Sie gehen mit einem schlechten Gewissen nach Hause.«

Müller und Wagner haben den Beruf des Pflegers gewählt, weil sie anderen Menschen helfen wollten. Momentan scheinen sie es zu sein, die Hilfe benötigen.

Das sagt die Geschäftsführung

"Diese Aussagen sind für uns so nicht nachvollziehbar"

Acht Monate, nachdem sich Teile des Personals des Uniklinikums über die ihrer Meinung nach unzumutbaren Arbeitsbedingungen beschwert haben, soll sich die Situation nicht verbessert haben. Im Gegenteil, es sei schlimmer geworden. Hat das Unternehmen in der Zwischenzeit etwas unternommen, um die Situation zu verbessern? UKGM: Die UKGM-Geschäftsführung war und ist im kontinuierlichen und konstruktiven Dialog mit den Beschäftigten und dem Betriebsrat über die Arbeitsbedingungen der verschiedenen Berufsgruppen am UKGM. Seit drei Jahren gibt es an beiden Standorten ein umfassendes betriebliches Gesundheitsmanagement. Zahlreiche Initiativen wie die regelmäßigen Mitarbeiter-Gesundheitstage, spezielle Schulungen auf Station (z. B. Rückenentlastung) oder für den Transportdienst (z. B. Heben, Tragen, Schieben), die Sensibilisierung der Führungskräfte aller Ebenen für Gesundheitsfragen und -Belastungen am Arbeitsplatz, unterschiedliche Arbeitszeitmodelle und Unterstützungsleistungen zu Familie und Beruf, Beruf und Pflege Angehöriger sowie Schulungen »gesund managen« für Führungskräfte belegen dies aus Sicht der UKGM-Führung eindrucksvoll. Schon vor zwei Jahren hatte sich die Geschäftsführung zudem mit der Gewerkschaft ver.di auf ein wichtiges Projekt zur Objektivierung der Belastungssituation verständigt: Die Durchführung einer flächendeckenden Mitarbeiterbefragung an beiden Standorten zu psychischen und physischen Belastungen am Arbeitsplatz. Im Ergebnis zeigte die Befragung eine vergleichbare Belastungssituation mit anderen Kliniken. In einer paritätisch besetzten Arbeitsgruppe wurden die Ergebnisse besprochen und Initiativen zum Erhalt und zur Förderung der Mitarbeitergesundheit gestartet und umgesetzt. Auf dieser Basis werden auch hier kontinuierlich und gemeinsam mit den Mitarbeitern weitere Lösungen und Umsetzungsmöglichkeiten erarbeitet. Die Pfleger sagen, sie hätten keine Zeit, die Patienten adäquat zu versorgen. Das führe dazu, dass die Patienten nicht so häufig gewaschen werden, wie es notwendig wäre. Das Gleiche gelte für Verbandswechsel. Die Hygiene komme zu kurz. Was sagen Sie dazu? UKGM: Diese Aussagen sind für uns so nicht nachvollziehbar. Eines jedoch ist ganz klar: Die Medizinische und pflegerische Behandlungs- und Versorgungsqualität für die Patienten steht am UKGM zu jeder Zeit an erster Stelle. Falls es hier tatsächlich zu Engpässen kommen sollte, sind die Mitarbeiter aufgefordert, dies schnellstmöglich und auf kurzem Weg ihren Vorgesetzten mitzuteilen. Zudem hat das UKGM weitere geeignete Instrumentarien zur Verfügung gestellt: Das Critical Incident Reporting System (CIRS). Hier können Mitarbeiter, auch anonym, Umstände melden, durch die das Patientenwohl gefährdet sein könnte. Diese Meldungen werden umgehend ausgewertet und geeignete Maßnahmen ergriffen. Zum anderen die Möglichkeit der Überlastungsanzeige. Auch diese werden kontinuierlich bearbeitet und an die Vorgesetzten berichtet, damit adäquate Regelungen getroffen werden können, um erkannte Missstände abzustellen. Die Pfleger fühlen sich überlastet, sie sagen, es gebe zu wenig Personal. Gibt es Planungen, wonach mehr Personal eingestellt werden soll? UKGM: Am UKGM gibt es kontinuierlich seit 2006 eine leistungsgerechte Personalanpassung. In diesem Zuge sind heute 16,7 Prozent mehr Pflegekräfte am Universitätsklinikum Gießen und Marburg beschäftigt als 2006. Das lässt sich transparent auf unserer Faktenseite www.ukgm.info nachvollziehen. In dem von Ihnen beschriebenen Zeitraum von Dezember vergangenen Jahres bis Juni 2017 sind im UKGM Gießen 20 neue Stellen in der Pflege dazu gekommen. Um neue oder frei werdende Stellen mit qualifiziertem Personal schnellstmöglich besetzen zu können, hat die Geschäftsführung schon im vergangenen Jahr einen weiteren Ausbildungskurs in der Krankenpflegeschule eingerichtet. Im Gegensatz zu anderen Häusern kann das UKGM so auch auf qualifizierten Nachwuchs aus den eigenen Reihen bauen. Im Oktober werden in Gießen rund 30 frisch examinierte Pflegerinnen und Pfleger übernommen. Die Geschäftsführung weiß, dass die Pflege und Behandlung kranker Menschen eine täglich herausfordernde Aufgabe ist, zumal an einem Universitätsklinikum, an dem schwerste Erkrankungen und Verletzungen versorgt werden. Deshalb hat sie im Rahmen der Gespräche zum Gesundheitsdialog mit der Gewerkschaft ver.di auch ein 10 Punkte-Programm vorgelegt, dass für eine Verbesserung der Arbeitssituation und eine Entlastung der Mitarbeiter sorgen soll. Auch hier sind wichtige Ergebnisse aus der schon angesprochenen Mitarbeiterbefragung eingeflossen. Die Verhandlungen mit ver.di sind auf einem guten Weg und werden im Oktober fortgesetzt. In vielen Krankenhäusern wird über die Pflegeproblematik gesprochen. In Gießen soll es aber ein Alleinstellungsmerkmal geben. Demnach erhalte die Klinik zwar Zuschüsse von Bund und Land für Forschung und Ausbildung, jedoch nicht für Neubauten, Instandsetzungen oder Investitionen in die Ausstattung. Das führe zu einem besonders hohen Kostendruck. Stimmt das? Und hat die Rhön-Klinikum AG im Privatisierungsprozess auf diese Zuschüsse verzichtet? Wenn ja, warum? UKGM: Die Abschreibungen der in den vergangenen elf Jahren getätigten Investitionen für Neubauten, Instandsetzungen oder Investitionen in die Ausstattung bestimmen keinesfalls weder die Personalplanung in der Pflege noch die Qualität der Patientenversorgung. Außerdem hat die Geschäftsführung mit einer leistungsgerechten Personalanpassung stets für eine optimale Patientenversorgung Rechnung getragen. Der Verzicht auf diese Zuschüsse am Universitätsklinikum Gießen und Marburg war Bestandteil des mit dem Land Hessen in 2006 geschlossenen Kaufvertrages.

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