Psychische Krankheiten:"Sie tritt mir in den Arsch, und das brauche ich auch"

Einsamkeit

Für psychisch Kranke sind Soziotherapeuten häufig die einzige Möglichkeit wieder in die Spur eines lebenswerten Lebens zurückzufinden.

(Foto: iStockphoto)
  • Der Bedarf an ambulanter Betreuung für psychisch Kranke ist groß. Doch selbständige Soziotherapeuten stecken selbst in Schwierigkeiten.
  • Die Krankenkassen übernehmen die Kosten. Die Vergütungen aber sind niedrig und die Anforderungen für die Zulassung hoch, dass sich kaum jemand an diesen Beruf heranwagt.
  • Die Arbeitsgemeinschaft der Krankenkassenverbände in Bayern (Arge) hingegen hält die aktuelle Vergütung für ausreichend.

Von Sophie Rohrmeier

Bewegungsunfähig sitzt sie an ihrem Computer, Sarah Bopp kann sich nicht rühren. Starrt nur auf den Bildschirm. Drei Stunden lang. Als sie es endlich schafft, sich aufzuraffen und zu sagen: "Mir geht's nicht gut, ich geh' jetzt", da ist ihr der Tod näher als das Leben. Sarah Bopp hat schwere Depressionen, und als sie damals, vor zehn Jahren, zum ersten Mal in eine Klinik geht, hängt die Verzweiflung schon lange über ihr. "Man ist zwar, aber man lebt nicht", sagt sie heute. "Dann könnte man auch einfach gar nicht leben." Zweimal versucht sie, sich umzubringen. Jetzt geht es ihr besser. Denn zu ihr kommt eine Soziotherapeutin - ein Glück, das psychisch Kranke in Deutschland nur selten haben.

"Sie tritt mir halt in den Arsch, und das brauche ich auch", sagt Sarah Bopp über Claudia Coen, ihre Soziotherapeutin. Die einzige freiberufliche in München, die sich diese Arbeit noch antut. Obwohl sie schon 65 Jahre alt ist und eigentlich in Rente. Aber sie traut sich nicht, ganz in Ruhestand zu gehen. Sonst besucht niemand mehr ihre vielen Patienten in deren Wohnung und hilft. Briefe zu öffnen, nicht alles liegen zu lassen, aus dem Haus zu gehen, zu Terminen beim Psychiater oder Ergotherapeuten. Leben zu können. Dinge, die Sarah Bopp, 49 Jahre alt, sehr schwerfallen.

Unordnung sammelt sich in der Wohnung, die Hoffnungslosigkeit wächst. Die Aussicht, dass etwas davon weniger wird, schwindet, und der Job ist weg. Der nächste Klinikaufenthalt rückt näher. Wie viele Patienten mit schweren psychischen Krankheiten wie Depressionen, bipolarer Störung oder Schizophrenie steckte Sarah Bopp lange fest in diesem Kreislauf. Der Bedarf an ambulanter Betreuung für psychisch Kranke ist groß. Doch selbständige Soziotherapeuten stecken selbst in Schwierigkeiten. "Ich muss nicht leben von dieser Arbeit", sagt Claudia Coen. Sie weiß von einigen Kollegen, die krank geworden seien, durch den Druck, sich mit dem Beruf finanzieren zu müssen.

Früher arbeiteten in Bayern 400 Soziotherapeuten, heute sind es noch 13

Die Krankenkassen übernehmen zwar die Kosten. Die Vergütungen aber sind so niedrig und die Anforderungen für die Zulassung so hoch, dass sich kaum jemand an diesen Beruf heranwagt, klagt der bundesweit tätige Berufsverband der Soziotherapeuten. Psychiater und neuerdings auch Psychotherapeuten können Fachkräfte wie Claudia Coen verordnen.

"Doch wer soll die Verordnungen ausführen?", fragt Verbandschef Hansgeorg Ließem. Früher arbeiteten etwa 400 Soziotherapeuten in Bayern, heute sind es noch 13, in Schleswig-Holstein zum Beispiel listet der Verband nur zwei Kollegen. Es herrsche Notstand, in vielen Regionen Deutschlands, sagt Ließem. "Die Situation ist so katastrophal, dass man sie kaum für möglich hält." Um die psychiatrischen Patienten in der ganzen Republik angemessen ambulant zu versorgen, brauche es keine Gesetzesänderung. Es brauche allein den Willen der Krankenkassen, die Gesetze auch einzuhalten.

Der Spitzenverband der gesetzlichen Kassen (GKV) will sich dazu nicht äußern, verhandelt werde auf Länderebene. Die Arbeitsgemeinschaft der Krankenkassenverbände in Bayern (Arge) hält die aktuelle Vergütung für ausreichend und spielt den Ball an die Soziotherapeuten - besser gesagt, an die Wohlfahrtsverbände, die für ihre angestellten Kräfte mit den Kassen die Arbeitsbedingungen aushandeln. Wären die Vergütungssätze nicht angemessen oder betriebswirtschaftlich ohne Deckung der anfallenden Kosten, wäre auch keine Einigung in den Verhandlungen zustande gekommen, wie ein Arge-Sprecher sagt. Freiberufler allerdings waren zu den bisherigen Verhandlungen in Bayern gar nicht erst zugelassen.

Etwa ein Viertel aller Soziotherapeuten in Deutschland ist freiberuflich tätig, der Rest ist angestellt bei den Sozialpsychiatrischen Diensten, getragen von den Wohlfahrtsverbänden. Doch die Dienste haben ihr soziotherapeutisches Angebot zurückgefahren, weil es sich auch für sie nicht lohnt - im Gegensatz zu Sozialhilfeleistungen wie betreutes Einzelwohnen. Das funktioniert ähnlich wie Soziotherapie. Nur: Was über die Sozialhilfe läuft, hat Nachteile für die Patienten.

Denn sie müssen nachweisen, dass sie arm genug sind dafür. Sonst müssen sie die Betreuung selbst bezahlen. Oder ihre Verwandten. Und dafür ihr Vermögen offenlegen, das eigene und das von Angehörigen. Das belaste auch die Beziehungen, und allein das halte viele davon ab, Hilfe in Anspruch zu nehmen, sagt Ließem. Deshalb wären für die Patienten gerade selbständige Soziotherapeuten oft der einzige Weg, nicht wieder in einer Klinik zu landen. Wenn die Kasse bezahlt, spielt das Vermögen keine Rolle.

Außerdem dürfen sich Soziotherapeuten - anders als Betreuer der Eingliederungshilfe - mit den Fachärzten der Patienten austauschen, sie sind in die Behandlung eingebunden. Der Arzt kann das abrechnen. Solche Gespräche aber, die Fahrzeit und die Vorbereitung auf Termine gehören eben auch zur Arbeit der Freiberufler - werden aber nicht bezahlt. In Bayern bekommen Soziotherapeuten derzeit eine Kilometerpauschale und pro Einsatz 46,34 Euro. Aber nicht, wenn ein Patient absagt.

Ihr Berufsverband verlangt 65 Euro und eine neue Zulassungsvereinbarung. Wer als Soziotherapeut arbeiten will, muss viel nachweisen. Zu viel, sagen Ließem und auch die Wohlfahrtsverbände. Zum Beispiel ein Jahr Erfahrung im psychiatrischen Krankenhaus - obwohl die Arbeit dort nicht vorbereitet auf das, was auf die Soziotherapeuten in den Wohnungen ihrer Patienten zukommt.

Claudia Coen muss sich manchmal den Weg von der Eingangstür zur Küche bahnen. Manchmal findet sie in der ganzen Wohnung keinen Platz zum Sitzen. Für jeden ihrer Patienten ist ein anderer Berg unüberwindlich. Für Sarah Bopp war es die Ablage. Claudia Coen ordnet mit ihr die Briefe, brachte den Balkon auf Vordermann, und als ihr Vater starb, sortierten sie zusammen seine Kleidung aus. Wenn bald die Stunden mit Coen um sind, die Sarah Bopp verordnet bekommen hat, muss sie wieder alleine klarkommen. Aber in der Zeit mit ihrer Soziotherapeutin hat sie wieder Arbeit gefunden. Sie kann wieder etwas tun.

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