Wirtschaft

Staatsaufträge an Pleitefirma Medizin-Kollaps bringt May in Erklärungsnot

Das britische Gesundheitswesen hängt am Tropf. Die Pleite des Bauriesen Carillion verschlimmert die Lage noch. Der Brexit könnte ihm den Rest geben.

Das britische Gesundheitswesen hängt am Tropf. Die Pleite des Bauriesen Carillion verschlimmert die Lage noch. Der Brexit könnte ihm den Rest geben.

(Foto: picture alliance / Joe Giddens/P)

Die Pleite des Baukonzerns Carillion führt das marode britische Gesundheitswesen vor: Der Liebling der Regierung baut, reinigt und beliefert Krankenhäuser. Sein Crash gibt einen Vorgeschmack auf den Brexit.

Die Nachricht von der Carillion-Pleite dürfte manchem Krankenhaus in Großbritannien den Rest geben. Hauptsächlich ist Carillion zwar ein Bauunternehmen. Der Weltkonzern war an Großprojekten wie dem Suez-Straßentunnel und der Großen Moschee in Oman beteiligt. In London errichtete er das Tate Modern und die Royal Opera. Doch der Kollaps des zweitgrößten britischen Baukonzerns zieht seine Kreise auch jenseits der Branche.

Carillion baut auch Krankenhäuser, Gefängnisse und Straßen - viele davon im Auftrag der öffentlichen Hand. Zu den Regierungsaufträgen gehört auch der Bau des Vorzeigeprojekts HS2, einer Hochgeschwindigkeitsbahn, die in Zukunft von London nach Birmingham fahren soll. Nach dem Bau übernimmt das Unternehmen dann häufig auch noch die Bewirtschaftung. So putzt der Konzern und liefert zum Beispiel das Essen an viele Krankenhäuser und Schulen.

Drei Verlustwarnungen seit Juli und der britische Bauriese erhält trotzdem öffentliche Aufträge.

Drei Verlustwarnungen seit Juli und der britische Bauriese erhält trotzdem öffentliche Aufträge.

(Foto: picture alliance / Joe Giddens/P)

Das öffentliche Gesundheitswesen, das schon lange am Rande des Kollaps steht, trifft der Carillion-Crash ins Herz. Die Zustände geben einen Vorgeschmack auf das, was mit dem Brexit noch kommen wird. Denn nach dem EU-Austritt dürfte das Geld noch knapper werden und noch mehr Fachkräfte aus dem Ausland fehlen. Schon heute häufen sich Berichte über überlaufene Notaufnahmen, Bettenmangel, verschobene OPs und Medizinstudenten, die für überlastete Ärzte einspringen. Bereits vor drei Monaten schrieben Ärzte einen Brandbrief an Premierministerin Theresa May, in dem sie von sterbenden Patienten auf den Fluren berichteten. Im "Guardian" verglich ein Betroffener die Zustände mit denen "in einem Kriegsgebiet".

Wie sehr steht London in der Pflicht?

Carillion beschäftigt weltweit 43.000 Mitarbeiter, davon 20.000 in Großbritannien. Laut BBC gibt es einen Fehlbetrag von umgerechnet gut 660 Millionen Euro in der Pensionskasse. Eine Sprecherin des britischen Pensionsfonds PPF sagte, die Nachricht bedeute "ernsthafte Probleme für alle".

Bauarbeiter, Reinigungspersonal in Krankenhäusern, Gefängniswärter, Hafenpersonal und Arbeiter im Energie- und Versorgungssektor fürchten um ihre Jobs und Pensionen. Sie fordern, dass London die verlustbringenden öffentlichen Aufträge absichert. Laut BBC wird London nicht darum herumkommen, zumindest vorübergehend Teile des Unternehmens zu verstaatlichen. Doch in welchem Umfang, ist offen. Die Regierung erklärte, öffentliche Dienste aufrechtzuerhalten. Sie forderte die Mitarbeiter auf, weiter ihrer Arbeit nachzugehen, und versprach auch eine Zahlung der Gehälter.

Den Steuerzahlern und Wählern dürfte das nicht schmecken. Zumal sich der Niedergang lange angekündigt hat. Ernste finanzielle Schwierigkeiten räumte der Konzern bereits im vergangenen Juli ein. In den folgenden fünf Monaten gab es zwei weitere Verlustwarnungen. Mittlerweile hat das Unternehmen Schulden in Höhe von umgerechnet 980 Millionen Euro und ein Defizit in Höhe von gut 660 Millionen Euro aufgetürmt. Gleichzeitig stürzte der Kurs ins Bodenlose.

Alarmglocken waren nicht zu überhören

Wie es weitergeht, ist unklar. Möglich sind unterschiedliche Szenarien: Wenn Verträge in den öffentlichen Sektor zurückgenommen werden, könnte das Personal direkt von der Regierung, den Gesundheitsbehörden oder der lokalen Regierung angestellt werden. Wo Carillion Teil eines Konsortiums ist, könnten die anderen Unternehmen Mitarbeiter übernehmen. Unklar bleibt dann noch, was mit Carillions Verträgen im privaten Sektor geschehen soll. Zu den Leidtragenden dürften vor allem die kleinen Subunternehmer Carillions gehören. Laut BBC sollen sie nur zwei Tage lang Unterstützung vom Staat erhalten. Schätzungen zufolge warten 30.000 Firmen auf Geld von Carillion.

Der Vorsitzende der Liberaldemokraten, Sir Vince Cable, forderte, dass die Regierung die Verantwortung für Carillions große Verträge übernimmt oder sie erneut ausschreibt, um die Lieferkette aufrechtzuerhalten. Einem Rettungsprogramm wie für die Banken in der Finanzkrise erteilte die Regierung eine Absage. Die Labour-Partei und die Gewerkschaften sind dagegen, dass private Unternehmen mit Steuergeldern gerettet werden.

Die Opposition aus Labour und Liberaldemokraten fordert aber noch mehr: Sie will von der Regierung wissen, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Warum hat London Carillion nach der ersten Verlustwarnung im Juli noch mehrere Staatsaufträge im Umfang von umgerechnet knapp 1,5 Milliarden Euro erteilt? Die Alarmglocken schrillten eigentlich laut genug, wundert sich nicht nur der Labour-Politiker Jon Trickett. Der Zusammenbruch von Carillion "erschüttere das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Fähigkeit des privaten Sektors, öffentliche Dienstleistungen und Infrastruktur bereitzustellen", sagte der konservative Ausschuss-Vorsitzende für öffentliche Verwaltung im Unterhaus, Bernard Jenkin, der BBC.

"Peinlich für alle"

Einfach "normal weiterzumachen", wie ein nicht namentlich genannter Regierungsvertreter die Vorgehensweise der Regierung in der "Financial Times" verteidigte, ist kaum möglich. Ein Kommentator bei Bloomberg nennt die Pleite eine "Peinlichkeit für alle Beteiligten". Das Königreich müsse sich durchringen, die gesamte Wirtschaft zu stärken. Sie sei zu zersplittert und schwach, um Brexit-Träume zu unterstützen.

Auch die Analysten von der UBS warnen, dass der britische Markt - auch ohne Carillion -  zu fragmentiert sei. Großbritannien müsse der finanziellen Gesundheit eines Auftragnehmers mehr Aufmerksamkeit schenken und gleichzeitig die Handelsbeziehungen mit europäischen Partnern aufrechterhalten, heißt es im Bloomberg-Kommentar weiter. Die Regierung soll nach dem Willen der Opposition als Nächstes darlegen, ob sie bei Carillion ihrer Sorgfalts- und Kontrollpflicht nachgekommen ist.

Das britische Gesundheitswesen ächzt - schon vor dem Brexit. Nach dem EU-Austritt dürfte es noch schlimmer werden. Ein Viertel aller NHS-Ärzte (National Health Service) in England stammt aus dem Ausland, ebenso eine von sechs Krankenschwestern. Eine Pleite wie die von Carillion macht Großbritanniens Arbeitsmarkt nicht attraktiver. Wegen des Brexit-Votums kommen schon jetzt deutlich weniger europäische Pflegekräfte nach Großbritannien als vorher. Die Zahl der Krankenschwestern aus EU-Staaten in Großbritannien ist seit dem EU-Referendum um 90 Prozent gefallen, 40.000 Stellen sind unbesetzt. Die Pleite von Carillion kommt zur Unzeit.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen