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BSG vom 19. Dezember 2017, Az. B 1 KR 17/17 R – NUB-Vereinbarung vs. Qualitätsgebot (Lungencoils)

Das BSG hatte am 19. Dezember 2017 über die Klage eines Krankenhauses zu entscheiden, das einen Patienten mit sogenannten Lungencoils behandelt hatte. Die Entscheidungsgründe liegen jetzt vor.

Inhalt der Entscheidung

Formal handelte es sich bei dieser Behandlung um eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode (NUB), für die gemäß § 6 Abs. 2 KHEntgG die Vereinbarung eines NUB-Entgelts erfolgte. Gleichwohl behauptete die Krankenkasse, es handele sich um eine experimentelle Behandlung, die nicht den Anforderungen des Qualitätsgebots gemäß § 2 Abs. 1 SGB V genüge. Der MDK hatte die im Behandlungszeitpunkt vorliegenden Studien aufgrund fehlender Verblindung und anderer methodischer Mängel sowie beschriebener Komplikationen kritisiert und darauf hingewiesen, dass weder Leitlinien noch Fachgesellschaften die Behandlung zur Routineanwendung empfahlen.

Das LSG hatte diese Bedenken gegen die Qualität der Studien übernommen. Positive Fallberichte und Kongressbeiträge hielt das LSG für ungeeignet, um den MDK zu widerlegen. Ein Sachverständigengutachten wurde nicht eingeholt. Das LSG vertrat die Auffassung, dass trotz der NUB-Vereinbarung das Qualitätsgebot zu berücksichtigen sei. Auch eine NUB müsse dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen. Gedanken darüber, wie eine NUB dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen soll, wenn sie doch gerade deswegen „neu" ist, weil über ihre Wirksamkeit noch keine Studien höchster Evidenzstufe vorliegen, machte das LSG sich nicht. Ebenso wenig setzte es sich mit der Frage auseinander, welche Bedeutung die weitere in § 2 Abs. 1 SGB V enthaltene Formulierung haben könnte, wonach Qualität und Wirksamkeit der Leistungen „den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen" haben.

Auf Grundlage des MDK-Gutachtens kam das LSG zu dem Ergebnis, dass die Behandlung mittels Lungencoils im Behandlungszeitpunkt dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse im Behandlungszeitpunkt nicht entsprach. Das MDK-Gutachten wertete die bis zum Behandlungszeitpunkt veröffentlichten Studien aus und kam zu dem Ergebnis, dass es sich bei allen Studien – mit einer Ausnahme – um nicht-vergleichende Fallserien handelte. Kritisiert wurden die große Ergebnisunsicherheit aufgrund fehlender Verblindung und der – angeblich – zu kurze Nachbeobachtungszeitraum von sechs Monaten bis max. zwölf Monaten. Der MDK-Gutachter rügte auch, dass „patientenrelevante harte Outcome-Parameter" wie der Einfluss der Behandlung auf das Gesamtüberleben nicht untersucht wurden. Außerdem wären eine Reihe von Komplikationen beschrieben, wonach es z. B. zu einer deutlichen Zunahme der Beschwerden nach Implantation der Lungencoils sowie Blutungen und Pneumothoraces kam. Bemängelt wurde außerdem, dass einzelne Autoren Interessenkonflikte angaben und die meisten Studien von dem Hersteller der Lungencoils gesponsert wurden. Gegen die einzige randomisierte Studie wandte der MDK-Gutachter ein, dass diese nicht verblindet sei.

Das Krankenhaus hatte auch die Neuregelung des § 137c Abs. 3 SGB V vom 16. Juli 2015 angeführt. Danach können nicht von dem G-BA ausgeschlossene Behandlungsmethoden zu Lasten der Krankenkassen erbracht werden, sofern sie das Potenzial einer erforderlichen Behandlungsalternative aufweisen. Das Krankenhaus behauptete, dass es sich hierbei um eine gesetzgeberische Klarstellung handele, die rückwirkend im Behandlungszeitpunkt (2013) Anwendung finde. Das LSG folgte dem nicht und betonte stattdessen, dass auch nach der Neufassung der Vorschrift das Potenzial einer erfolgreichen Behandlungsalternative nur bejaht werden könne, wenn zugleich das Qualitätsgebot gewahrt sei.

Das BSG wies die hiergegen gerichtete Revision des Krankenhauses zurück. Zur Begründung verwies es auf das auch im Bereich stationärer Krankenhausbehandlung geltende Qualitätsgebot, welches nicht erfüllt sei, wenn eine Behandlung nicht dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht. Die Wahrung des Qualitätsgebots setze im Regelfall voraus, dass über Qualität und Wirksamkeit der neuen Methode – die in ihrer Gesamtheit und nicht nur in Bezug auf Teilaspekte zu würdigen ist – zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen gemacht werden können. Der Erfolg muss sich aus wissenschaftlich einwandfrei geführten Studien über die Zahl der behandelten Fälle und die Wirksamkeit der Methode ablesen lassen. Die Therapie muss in einer für die sichere Beurteilung ausreichenden Zahl von Behandlungsfällen erfolgreich gewesen sein, wobei diese Anforderung nicht als starrer Rahmen missverstanden werden darf, der unabhängig von den praktischen Möglichkeiten tatsächlich erzielbarer Evidenz gilt.

Ob diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt waren, prüfte das BSG nicht. Stattdessen sah es sich insoweit an die Feststellungen des LSG gebunden. Dieses sei bereits zu dem Ergebnis gelangt, dass es sich bei der Behandlung mittels Lungencoils um eine experimentelle Methode ohne ausreichende evidenzgesicherte Basis handelte. Diese Feststellungen des LSG wären von dem Krankenhaus im Revisionsverfahren auch nicht angegriffen worden. Soweit das Krankenhaus im Revisionsverfahren nochmals auf die vorliegende randomisierte Studie verwies, sei eine Auseinandersetzung hiermit nicht erforderlich, weil das LSG diese Studie bereits wegen der dort fehlenden Verblindung unberücksichtigt gelassen hatte.

Auch aus § 137c SGB V folge keine Verpflichtung, einen anderen Maßstab anzulegen und zwar weder in der Fassung ab dem 1. Januar 2012 noch in der Fassung ab dem 23. Juli 2015. In der ab dem 1. Januar 2012 geltenden Fassung enthalte § 137c SGB V weiterhin einen bloßen Verbotsvorbehalt und könne nicht im Sinne einer generellen Erlaubnis aller beliebigen Methoden für das Krankenhaus bis zum Erlass eines Verbots ausgelegt werden. Hieran ändere auch die Einführung des neuen § 137c Abs. 3 SGB V zum 23. Juli 2015 nichts. Die grundsätzliche Geltung des Qualitätsgebots bleibe unangetastet. Rückwirkend könne die Vorschrift sowieso nicht angewendet werden. § 137c Abs. 3 SGB V enthalte insbesondere keine rückwirkende Klarstellung; hierfür finde sich weder im Wortlaut der Vorschrift ein Hinweis, noch habe der Gesetzgeber ihr Rückwirkung beigemessen. Unerheblich sei es, dass der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung von einer „gesetzlichen Konkretisierung und Klarstellung" gesprochen habe, da es sich hierbei nur um eine – für die Rechtsprechung unverbindliche – „authentische Interpretation" des Gesetzgebers handelte.

Zuletzt führte das BSG noch aus, dass aus der Vereinbarung des Zusatzentgelts gemäß § 6 Abs. 2 KHEntgG selbst kein Anspruch auf Vergütung dieses Zusatzentgelts folgt. § 6 Abs. 2 KHEntgG enthalte lediglich eine Regelung zur Preisfindung, träfe aber keine Aussagen dazu, unter welchen Voraussetzungen das vereinbarte Zusatzentgelt auch zu vergüten ist. Den Einwand des Krankenhauses, das NUB-Entgelt sei in Kenntnis genau der Datenlage mit den Krankenkassen vereinbart worden, die später von den gleichen Krankenkassen zur Zahlungsverweigerung angeführt wurde, ließ das BSG unberücksichtigt. Das Krankenhaus hatte auch im Revisionsverfahren argumentiert, dass ein solches Verhalten der Krankenkassen gegen Treu und Glauben verstoße. Mit diesem Einwand setze das BSG sich überhaupt nicht auseinander.

Kritik der Entscheidung

Diskussionswürdig ist diese Entscheidung des BSG unter mehreren Gesichtspunkten:

1. Zunächst stellt sich die Frage, ob das BSG tatsächlich einfach die Feststellungen des LSG zur Datenlage übernehmen durfte. Grundsätzlich ist das BSG im Revisionsverfahren zwar an Tatsachenfeststellungen der Vorgerichte gebunden. Rechtsfragen kann und muss es aber selbst beantworten. Die Frage, ob eine bestimmte Behandlungsmethode das Qualitätsgebot wahrt – ob sie also dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht – stellt allerdings eine Rechtsfrage dar. Zu ermitteln ist für deren Beantwortung zwar die Datenlage, es sind also medizinisch-wissenschaftliche Veröffentlichungen zur Behandlungsmethode zu recherchieren. Allenfalls für eine solche Recherche sind die Gerichte aber auf die Hilfestellung durch einen Sachverständigen angewiesen. Im Grunde genommen können sie diese Literaturrecherche auch selbst durchführen. Die Bewertung der recherchierten Literatur stellt dann aber einen Vollzug geltenden Rechts dar. Auch das BSG hätte sich daher mit dieser Frage auseinandersetzen müssen und die von dem LSG auf Grundlage des MDK-Gutachtens berücksichtigten Studien selbst bewerten müssen.

2. Problematisch ist die verweigerte Auseinandersetzung des BSG mit dieser Frage vor allem deswegen, weil die in dem MDK-Gutachten getroffenen Feststellungen von dem LSG unreflektiert übernommen wurden. Der MDK-Gutachter hatte gegen die von ihm recherchierten Studien eingewandt, diese seien wegen eines zu kurzen Nachbeobachtungszeitraums sowie der fehlenden Ermittlung von Outcome-Parametern wissenschaftlich nicht einwandfrei. Gegen alle Studien – auch die einzige randomisierte Studie – wurde zudem die fehlende Verblindung angeführt.

Gerade diese Einwände taugen aber nicht, um von einer Verletzung des Qualitätsgebots auszugehen.

Die fehlende Verblindung einer Studie sagt nichts darüber aus, ob es sich um eine wissenschaftlich einwandfrei geführte Studie handelt. Aus der fehlenden Verblindung einer Studie folgt lediglich deren Zuordnung zu einer anderen Evidenzstufe. Das BSG selbst hat jedoch in früheren Entscheidungen zur Ermittlung des allgemeinen anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse ausgeführt, dass die recherchierte Literatur gemessen am Grad ihrer jeweiligen wissenschaftlichen Evidenz zu gewichten und einzuschätzen ist (vgl. BSG vom 13. Dezember 2005, Az. B 1 KR 6/05 R). Grundsätzlich sind daher auch Studien niedrigerer Evidenzstufen zu berücksichtigen.

Diese Gewichtung nach Evidenzstufen entspricht auch dem Vorgehen des Gemeinsamen Bundesausschusses bei der Bewertung von Behandlungsmethoden. Der Gemeinsame Bundesausschusses geht dabei wie folgt vor:

- Soweit möglich werden für die Methodenbewertung Unterlagen der Evidenzstufe 1 herangezogen. Bei seltenen Erkrankungen kann es allerdings unmöglich oder unangemessen sein, Studien dieser Evidenzstufe durchzuführen oder zu fordern.

- Liegen keine Unterlagen der Evidenzstufe 1 vor, erfolgt die Nutzen-Schaden-Abwägung einer Methode aufgrund qualitativ angemessener Unterlagen niedrigerer Evidenzstufen. Die Anerkennung des medizinischen Nutzens einer Methode auf Grundlage von Unterlagen einer niedrigeren Evidenzstufe bedarf jedoch umso mehr einer Begründung, je weiter von der Evidenzstufe 1 abgewichen wird. (Informationsblatt – Verfahrenstechnische und methodische Anforderungen an die Bewertung einer Untersuchungs- und Behandlungsmethode des Gemeinsamen Bundesausschusses.)

Diese Vorgaben wurden weder von dem LSG noch dem BSG berücksichtigt. Insbesondere mit der vorgelegten randomisierten Studie hätten das LSG und das BSG sich auseinandersetzen und sie mit der entsprechenden Gewichtung in die Prüfung der Datenlage einbeziehen müssen. (Ausweislich der Verfahrensordnung des Gemeinsamen Bundesausschusses, dort 2. Kapitel, § 11 Abs. 3, entsprechen nämlich bereits randomisierte klinische Studien der höchsten Evidenzstufe, eine Verblindung fordert selbst der Gemeinsame Bundesausschuss für die Zuordnung zur höchsten Evidenzstufe nicht.)

3. Die Ausführungen des BSG zum Inhalt des § 137c SGB V in der Fassung vom 1. Januar 2012 und 23. Juli 2015 widersprechen dem Willen des Gesetzgebers. Das BSG bleibt dabei, dass es sich bei dieser Vorschrift nicht um eine Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt handelt. Auch die Änderungen des § 137c SGB V zum 1. Januar 2012 und 23. Juli 2012 hätten hieran nichts geändert.

Damit setzt sich das BSG aber in klaren Widerspruch zu dem Willen des Gesetzgebers. Bereits in der Gesetzesbegründung zum GKV-Versorgungsstrukturgesetz hatte der Gesetzgeber ausdrücklich darauf hingewiesen, dass seinem Verständnis nach § 137c SGB V genau eine solche Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt enthält und insoweit im Bereich stationärer Krankenhausbehandlung andere Maßstäbe gelten, als für die Anwendung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen Versorgung, für die § 135 SGB V gilt. Diese Vorgaben des Gesetzgebers ignoriert das BSG einfach, indem es stur an seiner überkommenen Rechtsprechung festhält.

Noch krasser widersetzt des BSG sich dem Willen des Gesetzgebers mit seinen Ausführungen zu § 137c Abs. 3 SGB V in der Fassung vom 23.07.2015. Das BSG betont, dass auch diese Neufassung nichts an der Geltung des Qualitätsgebots geändert habe. Dabei lässt es aber außer Acht, dass der Gesetzgeber ausweislich der Gesetzesbegründung genau diese Rechtsprechung des BSG zur Reichweite des Qualitätsgebots im Rahmen stationärer Krankenhausbehandlung ins Auge gefasst hatte und für die Anwendung von Behandlungsmethoden im Rahmen stationärer Krankenhausbehandlung einen abgemilderten Maßstab einführen wollte. (Die Frage der Rückwirkung dieser Neufassung des § 137c Abs. 3 SGB V darf sicherlich diskutiert werden, das BSG verkennt aber, dass der Gesetzgeber bereits mit der Änderung des § 137c SGB V zum 01.01.2012 dieses Ziel verfolgte, das er mit der Neufassung des § 137c Abs. 3 SGB V nur noch deutlicher in der Vorschrift verankerte.)

4. An der Argumentation des Krankenhauses vorbei gingen zuletzt die Ausführungen des BSG zur Bedeutung einer NUB-Vereinbarung gemäß § 6 Abs. 2 KHEntgG. Das Krankenhaus argumentierte im Wesentlichen, dass eine solche NUB-Vereinbarung auch ein schützenswertes Vertrauen auf eine nachfolgende Vergütung des vereinbarten NUB-Entgelts schaffe, wenn allen Beteiligten die Datenlage im Zeitpunkt der Vereinbarung bekannt war. In der Tat stellt sich die Frage, welchen Sinn eine NUB-Vereinbarung haben sollte, wenn sich die Krankenkassen in Kenntnis der Datenlage im Nachhinein genau hierauf berufen dürfen, um die Vergütung des jeweiligen NUB-Entgelts zu verweigern. Das BSG meint, es handele sich eben nur um eine Regelung zur Preisfindung. Das wirft aber die Frage auf, welchen Sinn eine solche Preisfindung haben sollte, wenn sie in Kenntnis einer Datenlage getroffen wird, die – nach Auffassung des BSG – ohnehin nie eine Vergütungspflicht der Krankenkassen auslösen kann, weil sie gegen das Qualitätsgebot verstößt. Diskutierenswert wäre zumindest der Umstand gewesen, dass auf Seiten des Krankenhauses doch gerade wegen der noch unsicheren Datenlage das Vertrauen entstehen kann, dass mit der Vereinbarung eines NUB-Entgelts auch ein Anreiz für die Erbringung der neuen Behandlungsmethode geschaffen werden soll und hieraus eine Vergütungspflicht für die Krankenkasse folgt.