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Niere statt Milz entfernt im Klinikum Bremen-Mitte Bremer Fall sorgt bundesweit für Aufsehen

Einem 18-Jährigen wurde in einer Bremer Klinik eine Niere statt der Milz entfernt. Chirurgen halten die Verwechslung für „unvorstellbar“. Eine Debatte über Sicherheits-Checklisten bei Operationen.
20.10.2017, 20:31 Uhr
Lesedauer: 4 Min
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Bremer Fall sorgt bundesweit für Aufsehen
Von Sabine Doll

Der 18-jährige Bremer, dem bei einer Operation im Klinikum Mitte eine Niere statt der Milz entfernt wurde, befindet sich nach Auskunft seiner Mutter noch in dem Krankenhaus. „Es geht ihm den Umständen entsprechend – also alles andere als gut. Vor allem ist er psychisch ganz unten“, sagt Durna Ucar dem WESER-KURIER. Wie berichtet, sollte bei Kerim Ucar am 5. Oktober die Milz entfernt werden, weil sich das Organ durch eine bereits seit Langem bestehende Erkrankung – eine sogenannte Kugelzellenanämie – vergrößert hatte. Bei der Operation ging jedoch alles schief, das kranke Organ blieb im Körper – stattdessen wurde eine gesunde Niere herausoperiert. Erst in der Pathologie, wo das Gewebe der kranken Milz untersucht werden sollte, soll sich schließlich herausgestellt haben, dass es sich um das falsche Organ handelt.

Die Nieren hätten sich verschoben

Der Fall hat bundesweit für Schlagzeilen gesorgt und wirft vor allem diese Frage auf: Können Milz und Niere leicht miteinander verwechselt werden? „Normalerweise nicht“, sagt Claus-Dieter Heidecke, Professor und Leiter der Allgemeinen Chirurgie an der Universitätsmedizin Greifswald. „Ohne die Details und den Patienten zu kennen, aber das ist wirklich schwer vorstellbar. Außer vielleicht, dass es sich um eine extrem seltene anatomische Variante gehandelt hätte. Aber das scheint hier nicht der Fall zu sein.“ Zwar liege die Milz im linken Oberbauch, zwischen der linken Niere und dem Zwerchfell. „Aber was die Lage dieser Organe betrifft, handelt es sich um zwei völlig unterschiedliche Kompartimente, also voneinander abgegrenzte Teilbereiche.“

Der Familie wurde nach Angaben der Mutter als Erklärung für die Verwechslung gesagt: Durch die Erkrankung hätten sich die Nieren verschoben, das habe die Zuordnung bei der Operation erschwert. „Es kann schon sein, dass es Komplikationen gibt, etwa wenn ein Patient viele Voroperationen hatte. Aber die Organe befinden sich an typischen Stellen“, betont der Chirurg aus Greifswald. „Wenn bereits bei der Vorbereitung zur OP und dann im Operationssaal alle Sicherheitsstandards eingehalten werden, um sogenannte Eingriffsverwechslungen zu verhindern, dürfte das eigentlich nicht passieren“, sagt Heidecke, der Vorstandsmitglied im bundesweiten Aktionsbündnis Patientensicherheit ist.

Das 2005 gegründete Bündnis hat klare Empfehlungen als Standard für alle deutschen Krankenhäuser entwickelt, die Patienten vor solchen folgenschweren Fehlern schützen sollen. Dazu gehört: Patient und Arzt lernen sich vor dem Eingriff persönlich kennen, das Operationsgebiet wird mit einem nicht abwaschbaren Stift auf der Haut klar gekennzeichnet, Besonderheiten und mögliche Komplikationen werden überprüft, Befunde und Patient immer wieder gegeneinander gecheckt. Wichtigste Regel sei das sogenannte Team-Time-out im OP: „Von allen an der Operation beteiligten Mitarbeitern wird anhand einer Checkliste der Patient identifiziert, die Besonderheiten des Eingriffs kurz besprochen, der Eingriffsort nochmals wiederholt und bestätigt“, erklärt der Greifswalder Chirurg. „Dieses Team-Time-out dauert eine Minute, das ist ein unverzichtbarer Sicherheitsfaktor und muss Routine sein.“ Nach dem Eingriff gebe es ein weiteres Time-out, in dem zum Beispiel auch Instrumente und Material wie Bauchtücher durchgezählt würden.

Standards in Bremen könnten nicht eingehalten worden sein

Ob und wie Kliniken mit diesen Empfehlungen umgehen, ist ihnen nach Angaben des Greifswalder Chirurgen überlassen. „Ich gehe davon aus, dass diese formal umgesetzt werden. Wie sie dann in der Realität gelebt werden, ist eine Frage der Kultur in einer Klinik“, sagt Heidecke. Wie viele Eingriffsverwechslungen in deutschen Kliniken passieren, sei nicht bekannt. „Wir haben kein Schadensregister wie in anderen Ländern, das fordern wir ganz klar.“

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Auch im Universitätsklinikum Münster wird der Bremer Fall aufmerksam verfolgt. OP-Manager René Waurick verweist ebenfalls darauf, dass Fehler im OP wie Eingriffsverwechslungen vor allem durch standardisierte Abläufe weitestgehend vermieden werden könnten. Der Arzt hat die Sicherheits-Checkliste des Uniklinikums mitentwickelt, die bei jedem Eingriff vom OP-Team abgearbeitet werden muss. „Zusätzlich haben wir ein Trainingszentrum eingerichtet, wo Ärzte und Pfleger in diesen Abläufen geschult werden.“ Ohne den Fall im Detail zu kennen, so Waurick, könne es eventuell sein, dass diese Standards in der Bremer Klinik nicht alle eingehalten worden seien. Auch er kommentiert die Verwechslung mit „schier unvorstellbar“.

Zustand muss sich stabilisieren

Auf Nachfrage betont Karen Matiszick, Sprecherin der Gesundheit Nord (Geno): „Selbstverständlich werden bei uns die üblichen Sicherheitsinstrumente wie OP-Checklisten standardisiert umgesetzt. Aber auch das kann nicht ausschließen, dass etwas passieren kann.“ Aufgrund der laufenden Ermittlungen könne die Geno den Fall nicht weiter kommentieren. Die Staatsanwaltschaft ermittelt aufgrund einer Anzeige gegen den Arzt, der den 18-Jährigen operiert hat, wegen des Verdachts der fahrlässigen Körperverletzung. „Wir sind noch ganz am Anfang, für die weiteren Ermittlungen werden unter anderem auch die Patientenakten ausgewertet und möglicherweise externe Sachverständige hinzugezogen“, sagt die Sprecherin der Staatsanwaltschaft, Silke Noltensmeier. Die entfernte Niere befindet sich nach Informationen des WESER-KURIER in der Rechtsmedizin am Klinikum Mitte, sie soll eventuell auch für die Ermittlungen untersucht werden.

Kerim Ucars körperlicher Zustand muss sich laut seiner Mutter stabilisieren, damit die Milz entfernt werden kann. Der Arzt sei ihres Wissens im Dienst. Sie habe überlegt, ihren Sohn in eine andere Klinik verlegen zu lassen, sich jedoch für die Bremer Klinik entschieden. „Unser Vertrauen ist aber sehr erschüttert“, sagt Durna Ucar.

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