Wie das Schweizer Gesundheitssystem Milliarden verschwendet

Der Vorschlag von Experten für ein Globalbudget im Gesundheitswesen hat viel Kritik ausgelöst. Das geltende System bewirkt aber jedes Jahr grosse Verschwendung.

Hansueli Schöchli
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Die Gesundheit ist dem Schweizer lieb und teuer. Trotzdem sollte auch das Gesundheitswesen dem gleichen Test unterliegen wie alle anderen Politikbereiche: Steht den Kosten ein angemessener Nutzen gegenüber? Weshalb auch hier wirtschaftliches Denken angebracht ist, bringt der Berner Gesundheitsökonom Heinz Locher auf den Punkt: «Das Gegenteil von Ökonomie ist Verschwendung.»

Die Politik erwägt weitere Eingriffe im Gesundheitswesen. (Bild: Christian Beutler / Keystone)

Die Politik erwägt weitere Eingriffe im Gesundheitswesen. (Bild: Christian Beutler / Keystone)

Der diese Woche publizierte Bericht einer vom Bund eingesetzten Expertengruppe unterstellt, dass die Verschwendung im Schweizer Gesundheitswesen erheblich ist, und er enthält eine Serie von Vorschlägen zur Eindämmung der Kostensteigerung. Die grösste politische Aufregung war dem Vorschlag eines Globalbudgets gewidmet. Verbände von Ärzten, Spitälern, Krankenkassen, Pharmaindustrie und Patienten fanden sich für einmal rasch zu einer gemeinsamen Position und verdammten den Vorschlag mit Schlagworten («Zweiklassenmedizin») in Bausch und Bogen.

Fehlanreize an vielen Orten

Die Kritik ist vor allem als Versuch zur Verteidigung von Pfründen zu werten. Was aus einer Gesamtsicht Verschwendung darstellen kann, sind aus Optik der Leistungserbringer Zusatzeinnahmen. «Verschwendung» heisst hier, dass Geld fliesst, welches die Gesundheit der Betroffenen nicht verbessert. Die Anfälligkeit zur Verschwendung ist im Gesundheitswesen besonders hoch, weil die meisten Akteure keine Sparanreize haben. Ärzte und Spitäler können mit Zusatzleistungen mehr Geld verdienen und teure Infrastruktur besser auslasten, während sich die Patienten den Fachempfehlungen der Mediziner oft ausgeliefert fühlen und zudem selber ihre Arzt- und Spitalkosten höchstens zu einem kleinen Teil direkt zahlen.

Selbst die Sparanreize der Krankenkassen sind beschränkt. Eine Ausweitung der Leistungen heisst für die Kassen Wachstum; aufpassen müssen sie in erster Linie, dass ihre Kosten nicht schneller wachsen als jene der Konkurrenz. Immerhin ist die Angst vor dem Damoklesschwert «staatliche Einheitskasse» ein Motiv für die Versicherer, die Kosten im Griff zu behalten.

Doch in welchem Ausmass produzieren die Fehlanreize im System Verschwendung? Manche Studien haben eine Schätzung versucht. Einen Literaturüberblick lieferte die 2012 publizierte Analyse im Auftrag der Akademien der Wissenschaften. Demnach dürften sich die bezifferbaren grossen Verschwendungsposten auf etwa 6 bis 7 Mrd. Fr. pro Jahr belaufen, was rund 10% der gesamten Gesundheitsausgaben ausmacht. Hinzu kommen noch viele weitere Posten, die aber nur schwer in Zahlen zu fassen sind. Insgesamt mag man ein Sparpotenzial von 10% bis 20% vermuten. Hier drei der wichtigsten in Studien bezifferten Effekte:

  • Anbieter bestimmen ihren Umsatz. Aus vielen Analysen der letzten zwanzig Jahre ist erhärtet, dass eine Zunahme des Angebots (etwa an Ärzten und Spitalbetten) die Kosten erhöht. Anzeichen für eine breite Unterversorgung in Regionen mit geringerer Angebotsdichte sind kaum ersichtlich – auch nicht aus dem Niveau der Patientenzufriedenheit. Bezeichnend sind etwa Befunde, wonach Arztpraxen mit relativ wenig Patienten mehr Leistungen pro Patient erbringen, obwohl es keine Hinweise gibt, dass diese Personen besonders hohen Betreuungsbedarf hätten. Studien zeigen zudem, dass Ärztenetzwerke mit Budgetverantwortung (also ohne Anreiz zur Überversorgung) tiefere Kosten ausweisen als solche Netzwerke ohne Budgetverantwortung.

Zwei Analysen aus den 1990er Jahren sähe man derweil gerne aufdatiert. Einer der Befunde daraus: Ärzte unterziehen sich weniger oft operativen Eingriffen als «normale» (weniger gut informierte) Patienten – was ein Hinweis auf Überversorgung sein kann. Der zweite Befund: Die meisten Ärzte sagen, dass andere Ärzte unter verstärktem Wettbewerbsdruck versuchen würden, die Leistungsvolumen auszuweiten.

  • Doppelspurigkeiten. Ein Mangel an Koordination beim Gang von Patienten zu verschiedenen Anbietern kann Doppelspurigkeiten und damit Zusatzkosten verursachen. Viele Studien zeigen, dass Praxisgemeinschaften, HMO-Gruppenpraxen oder ähnliche Netzwerke erhebliche Einsparungen bringen – und dies netto, das heisst nach Berücksichtigung der Tatsache, dass eher gesündere Versicherte in solche Modelle gehen. Die geschätzten Einsparungen betragen je nach Studie netto etwa 10% bis 30%.
  • Andere zahlen. Patienten zahlen in der Regel nur einen kleinen Teil der bezogenen Leistungen direkt – was Anreize zum Überkonsum bewirkt. Auch dieser Effekt kann laut Studien jährlich eine Milliardensumme ausmachen.

All dies heisst nicht, dass Globalbudgets zwingend eine gute Antwort wären. Es deutet aber darauf hin, dass einiges «Fett» im System ist. Ohne Änderung der Anreize wird dies so bleiben.