Fehlanreize im Gesundheitswesen Krankenkassen stiften Ärzte zu Manipulationen an

Berlin · Eine Studie unter niedergelassenen Medizinern belegt: Immer wieder versuchen Versicherungen, Diagnosen von Ärzten zu manipulieren.

Immer wieder versuchen Krankenkassen, auf die Diagnosen von Ärzten Einfluss zu nehmen. Dies belegt eine noch unveröffentlichte, von der Techniker-Krankenkasse in Auftrag gegebene Studie unter 1000 Praxismedizinern. „Zu meiner großen Überraschung geben 82 Prozent der Ärzte an, dass sie schon einmal bei der Kodierung von Krankenkassen beeinflusst wurden“, sagte der Chef der Techniker-Krankenkasse (TK) Jens Baas unserer Redaktion. Befragt wurden von Ende August bis zum 20. Oktober Allgemeinmediziner und Internisten ohne Schwerpunkt durch „DocCheck Medical Services“.

Auch der Gesetzgeber hat das Vorgehen der Kassen als Missstand erkannt. Seit April dieses Jahres ist die Beeinflussung ausdrücklich verboten. Sie läuft aber weiter, wie die Umfrage auch zeigt. Demnach gaben allein 18,2 Prozent der Ärzte an, dass Kassen sie nach Inkrafttreten des Gesetzes beeinflusst hätten. Hochgerechnet entspreche dies einer Zahl von 11.000 niedergelassenen Ärzten, betonte Baas.

Auf dem Papier die Versicherten möglichst krank machen

Viele Krankenkassen haben ein hohes Interesse daran, dass die Versicherten auf dem Papier möglichst krank sein sollten. Denn sie erhalten ihre Geldzuweisungen aus dem Topf der Krankenkassenbeiträge nach Alter, Geschlecht und Gesundheitszustand ihrer Versicherten. Für einen Asthmapatienten gibt es zum Beispiel mehr Geld, als wenn der Arzt eine einfachere Erkrankung der Luftwege kodiert.

„Die häufigsten Einflussnahmen der Krankenkassen auf die Ärzte erfolgt bei jenen Krankheiten, bei denen es Interpretationsspielräume gibt und wo bestimmte Kodierungen den Kassen Geld bringen“, sagte Baas. In der Umfrage sollten die Ärzte auch angeben, bei welchen Krankheiten die Kassen sie beeinflussen wollen. So erlebten schon 63 Prozent der Ärzte eine Einflussnahme beim Kreislaufsystem (auch Bluthochdruck), 59 Prozent bei Stoffwechselkrankheiten, wozu Diabetes zählt, 42 Prozent beim Atmungssystem, wobei es unter anderem um Asthma geht, und jeweils ein Drittel bei chronischen Schmerzen und psychischen Erkrankungen.

Für die Patienten bleiben die Tricksereien nicht folgenlos

Für die Patienten bleiben die Tricksereien bei der Kodierung nicht folgenlos. „Noch immer setzen die Kassen viel Energie und Geld ein, um Kodierungen zu erhalten, die ihnen hohe Geldzuweisungen einbringen“, sagte Baas. Dafür seien die Versichertengelder aber nicht da. Die Einflussnahme der Kassen könne dazu führen, „dass für Patienten Krankheiten dokumentiert werden, an denen sie nicht leiden“. Baas warnt vor vor einem existenziellen Problem: „Wenn jemand auf dem Papier die Diagnose Depression erhält, obwohl er nur eine depressive Verstimmung hat, und dann beim Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung auch keine Depression angibt, kann das im Falle des Falles zum Verlust des Versicherungsschutzes führen.“ Der TK-Chef betonte, er lege seine Hand dafür ins Feuer, dass seine Kasse nichts Illegales tue und dass man niemanden dazu anleite, Patienten auf dem Papier kränker zu machen als sie seien.

Krankenkassen treten an die Ärzte auf unterschiedliche Art heran

Die Kassen treten auf unterschiedliche Art an die Praxismediziner heran. Teils sprechen sie Ärzte persönlich an. Teils schließen die Kassen mit den Ärzten eigene Verträge über die Versorgung bestimmter Patientengruppen ab. Dann erhalten die Ärzte oft auch eine Praxissoftware, die im Sinne der Kassen die Kodierung vornimmt.

Das System der Geldzuweisungen nach Krankheitsbildern der Versicherten gibt es seit 2009. Das System ist umstritten, seitdem es existiert. Die TK, die ein eher jüngeres und gesünderes Publikum hat, profitiert von dem Ausgleichssystem weniger als beispielsweise die AOKen. Vor zwei Wochen war ein wissenschaftliches Gutachten veröffentlicht worden, wonach noch mehr Krankheiten für die Geldzuweisungen an die Kassen zugrunde gelegt werden sollten. Während der AOK-Bundesverband dies begrüßte, kritisierte die TK, eine solche Reform würde noch mehr „Fehlanreize“ schaffen.

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