Digitalisierung :
Versicherer wollen keine Rechnungen auf Papier mehr

Lesezeit: 5 Min.
Geeignet oder nicht? Auch die Beratung zu Medikamenten gehört zum digitalen Service von morgen.
Krankenversicherer haben oft mit Kunden zu tun und scheinen wie geschaffen für die Digitalisierung. Bleibt das Gesundheitswesen so bezahlbar – und was ist mit dem Traum von der Patientenakte?

Seit Jahren gab es keine Neugründungen in der Versicherungswirtschaft. Jetzt ändert sich das: Ein halbes Dutzend digitale Versicherer wollen in den Wettbewerb um Kundenbeiträge einsteigen. Ihr Ziel ist es, ihre Angebote stärker auf Kunden auszurichten und durch digitale Kommunikation und Arbeitsabläufe schneller zu machen. Nehmen sie Risiken auf ihre Bilanz, können sie eine attraktivere Marge einstreichen als digitale Vermittler.

Dennoch hätten die wenigsten vorhergesehen, dass ausgerechnet ein digitaler Krankenversicherer die erste Bafin-Lizenz seit einem Jahrzehnt erwerben würde. Die Sparte hat nicht den besten Ruf: Sie leidet unter dem Niedrigzins und muss Beiträge überdurchschnittlich anpassen. Seit Jahren belasten sie öffentlich diskutierte Reformideen, die bis hin zu einer Abschaffung reichen. Viele Vertriebe haben sich wegen des schwachen Neugeschäfts abgewandt. Der Wettbewerb ist aus systemischen Gründen gering.

Krankenversicherer wollen digitale Lösungen nutzen

In einem solchen Umfeld wirkt es provozierend, wenn der neue Akteur, der digitale Versicherer Ottonova, verkündet: „Alle haben zwanzig Jahre lang die Vollversicherung vernachlässigt. Durch uns gibt es einen positiven Schub.“ Er kenne die Reserviertheit der Krankenversicherer gegenüber Innovationen und wisse, in welche Lücke er vorstoßen müsse, sagt Gründer und Vorstandschef Roman Rittweger. Mit digitalen Services will er sein Start-up zur Spinne im Netz der Gesundheitsversorgung machen. Doch aller Anfang ist schwer, die Etablierten sitzen auf großen Beständen und wollen diesen Schatz als Wettbewerbsvorteil nutzen.

Wie verschlafen sind denn die privaten Krankenversicherer in der Digitalisierung? „Ziel von uns allen muss es sein, die häufig gegebene medizinische Überversorgung von Patienten durch Mehrfachuntersuchungen oder fehlende Informationen beim Arzt in den Griff zu bekommen. Hierfür müssen wir digitale Services nutzen“, sagt Thilo Schumacher, Vorstand für Krankenversicherung der deutschen Axa. „Wir müssen mit Partnern im Gesundheitsmarkt dafür sorgen, das Gesundheitssystem bezahlbar zu halten.“ Eine individuelle Gesundheitsakte müsse das Ziel sein: Würden alle Daten des Patienten gesammelt, würden zum Beispiel viele Röntgenbilder überflüssig. „Selbst wenn nur alle zehn Jahre ein Röntgenbild gespart wird, lohnt sich die Patientenakte schon“, sagt Schumacher. Vor drei Jahren gründete der französische Versicherer das Gemeinschaftsunternehmen Meine Gesundheit mit dem Softwareunternehmen Compu Medical. Seit vergangenem Jahr nutzen die App auch die Versicherer Debeka und Versicherungskammer Bayern.

Keine Rechnungen auf Papier

Die Axa wollte die Rechnungsstellung straffen. Früher wurde eine Rechnung beim Arzt erstellt. Aus diesem digitalen Datensatz wurde dann ein Papierdokument, der Kunde beglich die Rechnung und schickte sie an den Versicherer, wo sie eingescannt wurde. „Das ist volkswirtschaftlich überhaupt nicht sinnvoll. Warum wird die Rechnung erst zu Papier gemacht?“, fragt Schumacher. Mit einem digitalen Prozess könne der Versicherer viel schneller auszahlen. Außerdem lasse sich ein hoher Anteil der Belege dunkel, also vollautomatisiert, abrechnen. 60.000 Kunden nutzten die Plattform und deren beschleunigten Service.

Auch in der Barmenia in Wuppertal wird viel über Dunkelverarbeitung gesprochen. Von den 1,4 Millionen Rechnungen eines Jahres würden 30 Prozent automatisiert bearbeitet, bis zum kommenden Jahr hält Vorstandschef Andreas Eurich 50 Prozent für machbar, langfristig auch mehr. „Wir investieren in regelbasierte Systeme, die Prüfungen der Gebührenordnung für Ärzte machen können und bewerten, ob eine Rechnungsstellung sachgerecht ist“, sagt Eurich. Überdies verspreche er sich viel von Künstlicher Intelligenz, etwa um ärztliche Gutachten auszuwerten. „Da stecken wir noch in den Anfängen“, sagt er.

Daten müssen verbunden werden

Für den Kunden sichtbarer aber seien Dienstleistungen mit unmittelbarem Nutzen. „Wir versuchen, Zusatzangebote möglichst in digitaler Form anzubieten“, sagt Eurich. Eine Blutzuckermessung für Diabetiker sei auf analogem Wege unkomfortabel. Auch ärztliche Zweitmeinungen könnten digital vermittelt werden. „Ich wehre mich dagegen, dass wir die Digitalisierung verschlafen haben, die Insurtechs haben nicht unser Geschäftsmodell ersetzt“, sagt Eurich. Er sieht großes Potential, das vorhandene Modell durchzudigitalisieren, glaubt aber wegen des kleinen Marktanteils der privaten Versicherer von 10 Prozent an Kooperationen zwischen den Häusern.

Genügend Schritte gemacht? Bisher werden viele verschiedene Daten von Patienten erhoben, aber nicht miteinander verbunden.
Genügend Schritte gemacht? Bisher werden viele verschiedene Daten von Patienten erhoben, aber nicht miteinander verbunden.dpa

„Krankenhäuser und Ärztestrukturen sind ineffizient“, sagt Christopher Freese, Leiter der Gruppe Versicherungspraxis beim Berater Boston Consulting. „Gleichzeitig werden viele Daten erhoben und gespeichert. Überall hinterlassen wir Spuren in der digitalen Welt, die über unseren Krankheitszustand Auskunft geben.“ Diese Daten aber seien unverbunden, erst wenn man sie verknüpfte, seien die Kosten signifikant zu senken. Er hält Krankenkassen wegen ihrer Größe mehr als Versicherer für geeignet, als Spinne im Netz zu agieren.

Nutzen für die Kunden sichtbar machen

Kunden müssten die Hoheit über ihre Daten besitzen und entscheiden können, wer Zugang bekommt. Die Kassen sollten dann einen IT-Dienstleister beauftragen, Daten zu verwalten. Schließlich müsste ausgeschlossen werden, dass sie zur Tarifierung genutzt werden. Stattdessen sollten sie dem Gesundheitsmanagement dienen. „Man müsste von Körperdaten immer mehr in Richtung Versorgung und Arzneien kommen. Je näher sie im Versorgungsbereich liegen, desto sichtbarer wird der Nutzen“, sagt Freese.

Doch auch die privaten Konkurrenten sehen Aussichten. „Die Krankenversicherung bietet sich sehr für Digitalisierungsthemen an“, sagt Clemens Muth, Vorstandschef der Ergo-Tochtergesellschaft DKV. „Wir haben eine hohe Kundeninteraktion und viele Leistungsanfragen. Das unterscheidet uns von der Schadenversicherung.“ Sein Unternehmen war 2012 eines der ersten, das eine Rechnungs-App eingeführt hat. 170000 abfotografierte Rechnungen zählt er im Jahr. „Der Vorteil eines großen Bestandes ist, dass man viel investieren kann“, sagt Muth. So werde es in diesem Jahr eine App geben, um einen Medikationsplan digital abzurufen. Axa hat eine digitale telemedizinische Beratung eingeführt.

Rechnungen ballen sich zum Jahrensende

Zwei Fragen beschäftigen Muth: Kann der Versicherer Bewegungsprofile zur Tarifierung missbrauchen? Und geht Versicherern die Arbeit aus? Von messbaren Daten könne ein Krankenversicherer schlechter auf die Lebenserwartung schließen als ein Lebensversicherer. „Auch der Marathonläufer bekommt Alzheimer oder eine Herzschwäche“, sagt Muth. Vom Lebensende her betrachtet, differenzierten ihn seine Schäden nicht vom kettenrauchenden Übergewichtigen im Dauerstress. Und die menschenlose Versicherungsfabrik?

Bis heute bekomme die DKV viele Rechnungen zwischen den Jahren zugeschickt, was dann zu Hochbetrieb führe. Das ändere sich mit den digitalen Rechnungs-Apps. „Die Geschwindigkeit und Genauigkeit nimmt zu, die Tätigkeit der Sachbearbeiter wird hochwertiger, sie haben mehr Zeit für die Einzelfallbearbeitung“, sagt Muth.