Witten. . Kostendruck macht das Krankenhaus-Personal krank. Für viele Kliniken sind lukrative Operationen überlebenswichtig – für Patienten nicht immer.

  • Zu viele Operationen, drängelnde Patienten -- Stress macht Krankenhaus-Personal krank
  • Ärzte führen viele überflüssige Operationen durch
  • 30 Prozent der Krankenhäuser schreiben rote Zahlen

Deutschland hat Rücken. Wir sitzen zu viel. Wir wiegen zu viel. Wir bewegen uns zu wenig. Allerdings machen es die Engländer nicht besser. Und doch operieren Chirurgen in Deutschland zwei- bis dreimal so oft an der Wirbelsäule wie ihre Kollegen in Frankreich oder England. Viele Eingriffe sind überflüssig, manche schädlich. Die Gründe sind vielfältig: Ungeduldige Patienten wollen schnell wieder funktionieren. Orthopäden sind zu bildergläubig. Vor allem aber bringt eine Operation dem Krankenhaus mehr Geld als eine konservative Behandlung. Wirtschaftliche Erwägungen schlagen medizinische. Doch mit dieser Situation sind Beschäftigte und Management an den Kliniken alles andere als glücklich. Wie Führungskräfte mit dem ökonomischen Druck umgehen, haben Forscher der Universität Witten/Herdecke im Projekt „Entscheidungsfindung im Krankenhausmanagement“ untersucht.

Umstellung im Jahr 2003

Projektleiter Werner Vogd umreißt die Ausgangslage: „Die Umstellung der Krankenhausfinanzierung von der Bettenzahl auf das System der Fallpauschalen im Jahr 2003 hat zunächst gut funktioniert. Die Kliniken sind keine bürokratischen Monster mit patriarchalischen Strukturen mehr, sie haben sich modernisiert, flachere Hierarchien entwickelt. Chefärzte können sich nicht mehr erlauben, nicht zu kommunizieren oder Patienten erst mal drei Tage liegen zu lassen. Das ist positiv.“

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Doch alle Experten seien sich einig gewesen, dass diese gewollte Stressmaßnahme nur eine Übergangsphase sein sollte, um die Zahl der Kliniken um 20 bis 30 Prozent zu reduzieren. Verschwunden seien jedoch lediglich zehn bis elf Prozent. Die anderen hätten gelernt, mit dem System umzugehen – und auf eine Steigerung der Fallzahlen zu setzen. „Jedes Anreizsystem hat seine Schattenseite“, sagt der Soziologie-Professor. Jetzt werde die Grundfrage bei jeder medizinischen Intervention – kann man auch darauf verzichten? – kaum noch gestellt. „Das oft medizinisch gebotene Abwarten ist weg. Der jetzige Modus ist: Man muss steigern, wenn man überleben will.“

30 Prozent der Krankenhäuser schreiben rote Zahlen. Der Überlebensdruck ist immer da. Man hat umstrukturiert, outgesourct, Arbeitsprozesse verdichtet. „Wir fühlen uns wie im Hamsterrad“, sagen die für die Studie befragten 71 Geschäftsführer, Ärztliche Direktoren und Pflegedienstleiter – egal, ob der Träger privat, öffentlich oder kirchlich ist. Man muss im nächsten Jahr noch mehr rausholen, sich vermarkten, verkaufen, bei den Fachärzten um Überweisungen nachsuchen – Stress für alle Beteiligten.

Die offene Wunde

Am meisten leidet die Pflege. „Das ist die offene Wunde“, sagt Vogd. „Pflegekräfte müssen die Situation ausbaden, sie sind die Stiefkinder der Entwicklung.“ Stellen werden gestrichen, Anforderungen steigen. Vogd fragt: „Wie können sich ausgebrannte Pflegekräfte um multiresistente Keime kümmern?“

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Es gibt Geschäftsführer, die das ignorieren, die den Blick starr auf die Zahlen richten und wöchentlich die Abteilungen mit ihren betriebswirtschaftlichen Ergebnissen konfrontieren. Eine hohe Mitarbeiterfluktuation ist die Folge. Andere setzen mehr auf Kommunikation als auf Zahlen, verlangen lediglich exzellente medizinische Leistungen. Und es gibt Zwischenformen. Auch diese Managementmethoden sind nicht von der Trägerschaft abhängig, eher von der strategischen Ausrichtung: Wie positioniert man sich im Markt?

„Die meisten wollen nichts Illegales tun“, sagt Vogd, „aber man bewegt sich in Grauzonen. Entscheidungen fallen nicht mit Blick auf den Patienten: Ist bei einem 86-Jährigen mit langsam wachsendem Krebs eine große OP, nach der er zum Pflegefall wird, sinnvoll? Aber es ist ein Fall mehr.“ Die Sorge vieler Ärzte: So könnten die professionellen Kulturen Schaden leiden.

Was wäre die Alternative? „Das System darf nicht beim Einzelfall mit Gewinn und Verlust kalkulieren“, meint Vogd. Sein Ansatz: Auf Basis der bisherigen Daten jeder Klinik für fünf Jahre ein festes Budget zuteilen: „So kommen wir raus aus der Steigerungslogik und machen nur noch, was notwendig ist.“ Weniger Rücken-OPs. Mehr Gymnastiktipps. Voraussetzung wäre aber eine politische Entscheidung. Realistisch? Vogd ist skeptisch. Aber er weiß: „Mit der jetzigen Situation sind alle unzufrieden.“