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Fehler bei der Leichenschau: Mit dem Messer im Rücken ins Krematorium

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Eine Leiche in der Rechtsmedizin am Uniklinikum Frankfurt: In diesem Institut versuchen Rechtsmediziner, die Todesursache zu klären, Hinweise zur Identität eines Verstorbenen zu finden und die Justizbehörden bei ihrer Ermittlungsarbeit zu unterstützen.
Eine Leiche in der Rechtsmedizin am Uniklinikum Frankfurt: In diesem Institut versuchen Rechtsmediziner, die Todesursache zu klären, Hinweise zur Identität eines Verstorbenen zu finden und die Justizbehörden bei ihrer Ermittlungsarbeit zu unterstützen. © Andreas Arnold (dpa)

Ein flüchtiger Blick auf die Leiche, Lücken und Fehler im Totenschein - Rechtsmediziner beklagen mangelnde Sorgfalt bei der Leichenschau in Deutschland. Verbrechen und Behandlungsfehler bleiben so unentdeckt.

Als der Frankfurter Rechtsmediziner Marcel Verhoff das Pflaster vom Brustkorb des Toten zieht, entdeckt er die Stichwunde. Im Totenschein war «natürlicher Tod» angekreuzt. Klar, sagt der Direktor des Instituts für Rechtsmedizin der Goethe-Universität, das sei «ein besonders krasser Fall» gewesen. Aber dass Totenscheine voller Fehler sind und Leichenschauen nur oberflächlich durchgeführt werden, ist in Deutschland eher die Regel als die Ausnahme.

Das Institut für Rechtsmedizin der Universität Rostock hat 10 000 Todesbescheinigungen aus drei Jahren überprüft: Lediglich 223 waren fehlerfrei. Stattdessen fanden sich mehr als 3000 schwere und über 35 000 leichte Fehler. In 44 Fällen wurde fälschlich ein natürlicher Tod bescheinigt. «Mit dieser Größenordnung haben wir zu Beginn der Studie nicht gerechnet», sagte Rechtsmediziner Fred Zack bei der Vorstellung der Studie im September.

Dass die Leichenschau in Deutschland mangelhaft ist, ist keine Überraschung. Schon in den 1990er Jahren kam eine Studie des Münsteraner Instituts für Rechtsmedizin zu dem Ergebnis, dass mehr als 10 000 nichtnatürliche Todesfälle pro Jahr unerkannt bleiben, darunter mindestens 1200 Tötungsdelikte. Der Bund Deutscher Kriminalbeamter fordert seit Jahren die Einführung einer professionellen Leichenschau. Passiert ist bisher wenig.

Niedersachsen zog mit einem verschärften Bestattungsrecht Konsequenzen aus der Mordserie des Krankenpflegers Niels H. Er war 2015 wegen fünf Todesfällen verurteilt worden. Später ergaben toxikologische Untersuchungen, dass er für rund 100 Todesopfer verantwortlich ist. In Bremen wird seit August jeder Gestorbene von einem ausgebildeten Leichenschauarzt begutachtet: Erst stellt ein Arzt den Tod fest, dann folgt die «qualifizierte Leichenschau».

In Flächenländern wie Hessen sei ein Modell wie in Bremen «nicht realisierbar», glaubt Verhoff. In ganz Deutschland gebe es nur gut 200 Rechtsmediziner und Ärzte. Er geht nicht davon aus, dass es genügend Ärzte gäbe, die eine Fortbildungen zum «Leichenschauer» machen wollten. «Wir werden also auch in Zukunft darauf angewiesen sein, dass alle Ärzte die Leichenschau machen.»

Eine gute Leichenschau, so steht es in den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin, geht so: helles Licht anmachen, nackt ausziehen, auf alle Seiten drehen, in alle Öffnungen schauen. Die meisten Angehörigen empfinden das als pietätlos, viele Ärzte als überflüssig. «Die meisten Totenscheine werden am Küchentisch ausgefüllt», sagt Verhoff: «Der Tote liegt im Bett, da schaut man mal durch die Tür.»

Beim Befund muss eine lückenlose Kausalkette stehen: «unmittelbare Todesursache» (etwa Herzversagen), «vorangegangene Ursache» (mehrere Herzinfarkte), «Grundleiden» (chronische Herzschwäche). Oder Operation - Bettlägerigkeit - Lungenembolie. Das ist nicht nur wichtig, um Morde zu entdecken, sondern auch, um einen Scheintod auszuschließen und die Behörden über Todesursachen zu informieren.

Auf dem Leichenschauschein sind drei Kreuzchen möglich: «natürlicher Tod», «nichtnatürlicher Tod» und «ungeklärte Todesart». Kreuzt der Arzt unnatürlich oder ungeklärt an, muss er zwingend die Polizei verständigen. Die Leitung eines Pflegeheims wird sich nicht freuen, sagt Verhoff, wenn der engagierte junge Heimarzt bei allen Fällen, in denen er keine eindeutige Ursache erkennen kann, die Polizei ins Haus ruft.

Was die Leichenschau leisten kann, ist begrenzt: Man sieht den Körper nur von außen. «Aber man kann doch eine Menge erkennen, wenn man genau hinsieht», glaubt Verhoff. Noch mehr sehen kann man mit einer Obduktion, bei der der Leichnam geöffnet wird. Rechtsmedizinern zufolge wird aber nur ein Prozent der Toten obduziert. Nicht immer muss ein Mordverdacht dahinterstecken. Auch zur Qualitätssicherung in Krankenhäusern und zur Ausbildung von Medizinstudenten werden Leichen geöffnet.

Verhoff wünscht sich für die Leichenschau in Deutschland verpflichtende, wiederkehrende Fortbildungen für alle Ärzte und mehr Obduktionen - und eine Liste mit «knallharten Kriterien». Träfe eines davon zu - zum Beispiel ein junges Alter oder ein Tod im Freien - müsste automatisch eine Obduktion folgen, ganz ohne Polizei und Staatsanwalt. «Dann wäre das Emotionale raus», glaubt der Rechtsmediziner.

Dass überhaupt Fehler im Totenschein auffallen, ist dem Trend zur Feuerbestattung zu verdanken: Im Krematorium muss die Leiche ein zweites Mal angeschaut werden. Eine Legende unter Rechtsmedizinern ist ein Fall, wo in der Leiche noch das Messer steckte.

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