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Machen Kassen die Patienten kränker, als sie sind?

Das verschriebene Medikament kann die Diagnose noch im Nachhinein verschärfen Das verschriebene Medikament kann die Diagnose noch im Nachhinein verschärfen
Das verschriebene Medikament kann die Diagnose noch im Nachhinein verschärfen
Quelle: Getty Images/Universal Images Group
Die Staatsanwaltschaft vermutet Betrug bei gesetzlichen Krankenkassen. Es geht um die Frage, ob die Versicherer ihre Patienten auf dem Papier kränker machten, um die Geldumverteilung beeinflussen.

Die Beamten der Staatsanwaltschaft brauchten Stunden, um bei ihrer Razzia Ende September in Düsseldorf alles zu sichern, was ihnen relevant erschien. Am Ende waren es 86 Kisten, die die Ermittler aus dem Bürohaus in der Innenstadt schleppten, dem Sitz der AOK Rheinland/Hamburg. „Die haben einfach alle Aktenordner mitgenommen, auf denen das Wort ,Morbi-RSA‘ stand – also mit Sicherheit viel mehr, als sie am Ende brauchen können“, sagt ein Mitarbeiter der Kasse, der den Einsatz miterlebte.

Der Einsatz im Rheinland war der vorläufige Höhepunkt einer Ermittlung der Staatsanwaltschaft Hamburg, die nach Informationen der WELT groß angelegt ist: Es geht um die Frage, ob mehrere Krankenkassen bundesweit das Sozialsystem in betrügerischer Absicht geschädigt haben, indem sie ihre Patienten auf dem Papier kränker machen, als sie tatsächlich sind. Es würden derzeit Verdachtsmomente gegen mehrere Krankenkassen geprüft, teilte die Staatsanwaltschaft auf Anfrage mit.

Bisher war lediglich bekannt geworden, dass die Ermittler die AOK Rheinland/Hamburg im Visier haben. Ermittelt wird der Staatsanwaltschaft zufolge auch gegen den Vorstandschef der Techniker Krankenkasse (TK), Jens Baas.

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Der Grund dafür: Baas hatte sich im vergangenen Herbst in einem Zeitungsinterview öffentlich dazu bekannt, dass auch sein Haus dafür sorge, seine Versicherten von Ärzten als so krank wie möglich diagnostizieren zu lassen. Gegen wie viele Krankenkassen ein ähnlicher Anfangsverdacht bestehe, teilte die Staatsanwaltschaft nicht mit. „Wir gehen aber davon aus, dass die Kassen in Höhe von mehreren Millionen Euro von den verfahrensgegenständlichen Abrechnungen profitiert haben“, sagte Sprecherin Nana Frombach.

Umverteilung von Geld zwischen den Krankenkassen

Die Ermittlungen waren nach einem Bericht der WELT AM SONNTAG vor etwas mehr als einem Jahr ins Rollen gekommen. Sie drehen sich um einen der größten Streitpunkte in der deutschen Gesundheitspolitik, und zwar die Umverteilung von Geld zwischen den Krankenkassen.

Das System funktioniert derzeit so: Die rund 200 Milliarden Euro, die gesetzlich Versicherte pro Jahr an Krankenversicherungsbeiträgen zahlen, wandern in einen großen Topf. Das Geld wird dann an die einzelnen Kassen verteilt – abhängig davon, wie viele Kranke jede Kasse versichert.

Kassen wie die Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) versichern besonders viele Menschen mit niedrigen Einkommen, etwa Hartz-IV-Empfänger, und häufiger als andere Kassen auch alte, kranke Menschen. Ohne die Umverteilung würden die AOK vermutlich von der Kostenlast erdrückt.

Dafür, wie viel Geld welche Kasse bekommt, sind zurzeit rund 80 ausgewählte Krankheiten maßgeblich. Für jeden Versicherten mit einer dieser Krankheiten bekommt eine Kasse im Schnitt 1000 Euro aus dem Topf mit dem sperrigen Namen „morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich“.

Ärzte lassen sich für teure Diagnosen bezahlen

Der Vorwurf, mit dem sich nun die Staatsanwaltschaft beschäftigt, ist dieser: Die betroffenen Kassen hätten in den vergangenen Jahren Ärzte und Beratungsfirmen dafür bezahlt, dafür zu sorgen, dass bei Patienten Krankheiten diagnostiziert wurden, die diese vielleicht überhaupt nicht hatten oder die Ärzte deutlich übertrieben darstellten. Zum Beispiel Depressionen oder chronische Schmerzen. Das Ziel: den Umverteilungsmechanismus zu ihren Gunsten beeinflussen.

Quelle: Infografik Die Welt
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Um dieses Ziel zu erreichen, schlossen die Krankenkassen in den vergangenen Jahren immer mehr Rahmenverträge mit Ärztevereinigungen. In denen war festgelegt, wie viel Geld ein Arzt für jede zusätzlich attestierte Krankheitsdiagnose bekam.

Es waren jeweils nur ein paar Euro pro Patient und Diagnose, die sich aber läpperten: Eine Kasse rechnete für den WELT-AM-SONNTAG-Bericht aus, wie viel Geld die Kassen allein für diese Prämienzahlungen an Ärzte ausgaben: rund 842 Millionen Euro pro Jahr. Geld, das in die Taschen von Ärzten floss, anstatt der Krankenversorgung zugutezukommen.

Krankenkasse: Es geht um korrekte Diagnosen

Nach dem Bericht und der darauffolgenden Äußerung von TK-Chef Baas war die öffentliche Empörung über diese Methoden hochgekocht. Es habe „mehrere Strafanzeigen“ gegeben, teilt die Hamburger Staatsanwaltschaft mit – unter anderem eine der Deutschen Stiftung Patientenschutz gegen Baas persönlich.

Die Ermittler müssen sich nun durch Aktenberge wühlen und herausfinden, ob die Kassen tatsächlich das Sozialsystem betrogen haben oder ob sie sich im gesetzlichen Rahmen bewegt haben. Ein Beispiel, an dem sich der Unterschied erklären lässt, ist die AOK Rheinland/Hamburg.

Dort steht man auf dem Standpunkt, man habe korrekt gehandelt. Die Kasse nämlich habe die Ärzte nicht für Fantasiediagnosen bezahlt, sondern lediglich dafür, korrekte Diagnosen nachzureichen. Aus der Kasse verlautet, es sei um solche Konstellationen gegangen, in denen ein Arzt zwar Medikamente für eine bestimmte Krankheit verschrieben habe – zum Beispiel Diabetes –, jedoch nicht attestiert habe, dass der Patient die dazugehörige Krankheit habe.

Bei der betroffenen AOK ist man sicher, der Verdacht auf Betrug werde sich im Verlauf der Ermittlungen in Luft auflösen. Denn dieses „Nachcodieren“, wie es in der Fachsprache heißt, sei von der zuständigen Aufsichtsbehörde beim Land Nordrhein-Westfalen zuvor genehmigt worden.

Streit über „Nachcodierung“ oder „Hochcodierung“

Es gibt allerdings einen Grund dafür, dass ausgerechnet bei der AOK in Düsseldorf die Ermittler anrückten: Die bundesweite Aufsichtsbehörde über die Kassen, das Bundesversicherungsamt in Bonn, hatte im vergangenen Spätherbst auch noch einmal alle Prämienverträge zwischen Kassen und Ärzteverbänden kritisch geprüft.

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Die Aufsichtsbehörde kam zu dem Ergebnis, dass 13 Kassen zu Unrecht Geld aus dem Ausgleichstopf kassiert hatten. Sie forderte von ihnen insgesamt 53 Millionen Euro zurück. Während zwölf Kassen die Rückforderungen anstandslos leisteten, klagte die AOK Rheinland/Hamburg dagegen. Letzten Endes hatte man sich auf eine Vergleichszahlung geeinigt.

Die Staatsanwaltschaft untersucht nun, ob die Kasse tatsächlich nur harmlos „nachcodiert“ hat oder doch – strafrechtlich relevant – „hochcodiert“, also etwa Ärzte dazu angehalten, aus einem Stimmungstief eines Patienten eine „schwere Depression“ zu fabulieren. Sowohl AOK als auch Techniker Krankenkasse wähnen sich indes auf der rechtlich sicheren Seite.

Letztere hatte sich schon vor Monaten Hilfe von einem externen Anwaltsbüro geholt, das durch freiwillige interne Ermittlungen die Strategie der Kasse bei der Beeinflussung von Diagnosen so transparent wie möglich machen sollte. Bei der TK heißt es nun, die eigenen Untersuchungen hätten ergeben, dass die Kasse eine weiße Weste habe. Die Staatsanwaltschaft hat ihre Ermittlungen allerdings noch nicht eingestellt.

Fehlanreize sorgen weiterhin für teure Diagnosen

Auch die Bundespolitik ist mittlerweile aktiv geworden, um Manipulationen am Umverteilungstopf zu verhindern. So wurden die bisherigen Rahmenverträge zwischen Kassen und Ärzteverbänden verboten, die Prämienzahlungen an Ärzte für Diagnosen festlegten, die sogenannten Betreuungsstrukturverträge.

Allerdings fließen im Gegenzug für Diagnosen heute trotzdem noch Gelder von Kassen an Ärzte. Die Verträge heißen jetzt nur anders, nämlich „Verträge zur hausarztzentrierten Versorgung“, und sie funktionieren etwas anders.

Die Fehlanreize in diesem Umverteilungssystem bestünden immer noch, kritisierte vergangene Woche die Siemens-Betriebskrankenkasse. Sie hätten dazu geführt, dass sich zum Beispiel in den vergangenen vier Jahren die Zahl der Patienten mit der Diagnose „chronischer Schmerz“ verdoppelt habe und die der Patienten mit „schwerer Depression“ um 60 Prozent gestiegen sei. Wahrscheinlich habe es den Anstieg allerdings nur auf dem Papier gegeben, vermutet man bei der Kasse.

Ausgleichsmechanismus soll überarbeitet werden

Während die Ermittler an der Elbe noch Aktenordner wälzen, ringen die Krankenkassenlobbyisten derzeit erbittert darum, den Ausgleichsmechanismus zu überarbeiten. Im Frühjahr hatte die Bundesregierung einen Wissenschaftlichen Beirat damit beauftragt, Vorschläge für eine Verbesserung zu machen.

Dieser Beirat legte Ende September sein Gutachten vor. Der zentrale Vorschlag lautet: In Zukunft sollen alle Krankheiten und nicht mehr nur 80 ausgewählte darüber bestimmen, welche Kasse wie viel Geld aus dem Beitragstopf erhält.

Ob das Manipulationen vorbeugt, darüber gehen die Meinungen auseinander: Zwar würde der Anreiz für Kassen wegfallen, Ärzten Prämien für die Diagnose bestimmter Krankheiten zu bezahlen. Dafür stiege die Gefahr, dass künftig auf noch breiterer Basis Krankheiten bescheinigt werden.

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