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Marktdruck im Gesundheitswesen
Wenn die Pflegerin hetzen muss

Altenpflegeheime zu betreiben, ist lukrativ - auch für börsennotierte Aktiengesellschaften. Doch Patienten wie Personal wird dabei zu viel zugemutet. Weil in der Alten- schlechter als in der Krankenpflege ausgebildet wird, hinkt auch die Bezahlung hinterher - und damit die gesellschaftliche Anerkennung.

Von Felicitas Boeselager, Ina Rottscheidt und Ulrike Winkelmann | 26.12.2017
    Eine Pflegekraft (l) begleitet am 22.02.2013 die Bewohnerin eines Altenheims mit Rollator beim Gang über den Flur.
    Weil in der Alten- schlechter als in der Krankenpflege ausgebildet wird, hinkt auch die Bezahlung hinterher (picture alliance / Oliver Berg)
    "Mein größter Traum war immer, einen Tag mal in Köln bummeln zu gehen, ja. Das konnte ich seit 16 Jahren nicht."
    Margit Wisser sitzt an ihrem Schreibtisch. Sie sieht müde aus und kämpft gegen eine Erkältung an. Neben sich hat sie Rechnungen liegen, die darauf warten, abgelegt zu werden. Das Handy leuchtet im Fünf-Minutentakt auf. Es ist Mitte Dezember. Im Winter ist Hochsaison für ihren kleinen ambulanten Pflegedienst:
    "Die Patienten rufen total genervt hier an: 'Sie sind jetzt schon der 30. Pflegedienst, den ich hier anrufe!' - keiner hat mehr einen Platz. Es ist wirklich fünf vor zwölf in der ambulanten Pflege. Fünf vor zwölf!"
    Vor 16 Jahren hat Margit Wisser die Pflegedienstzentrale "Mawis" in Hennef bei Bonn gegründet. Sie ist gelernte Krankenschwester und studierte Pflegemanagerin. Als junge Krankenschwester war es ihr Traum, einen Pflegedienst zu leiten. Heute, mit 40 Jahren Berufserfahrung, bereut sie diese Entscheidung oft:
    "Ich habe auch nicht damit gerechnet, dass man kaum mehr Privatleben hat, also ich arbeite in der Regel 14 Stunden am Tag - ohne Wochenenden."
    Massenversorgung und unterbezahlt
    Weil die Chefin will, dass ihre Mitarbeiter Zeit für ihre Kunden haben, versorgen sie maximal zehn Patienten am Tag. (*) Bei vielen großen Pflegediensten – beispielsweise vom Roten Kreuz – seien die Pfleger für mehr als doppelt so viele Patienten verantwortlich, erzählt Wisser:
    "Das muss ja eine Massenversorgung sein, dann rennt man da die Treppen hoch, kommt dann da abgehetzt an ... Und ich weiß nicht, wie man dann einen Patienten waschen kann – in zehn Minuten."
    Für Margit Wisser bedeutet die schlechte Bezahlung der Pflegekräfte auch Geringschätzung ihrer Arbeit:
    "Es ist eben auch entwürdigend, für solche Preise zu arbeiten. 20 Euro bekommt man in der Körperpflege, zehn Euro in der Krankenversicherung, das ist entwürdigend!"
    Teilnehmer einer Verdi Demonstration laufen am 08.11.2017 mit Schildern durch Tübingen (Baden-Württemberg). Die Pflegekräfte der Uniklinik Tübingen kritisieren die Personalnot in der Pflege. Nach der kurzfristigen Absage eines Warnstreiks der Beschäftigten der Uniklinik fand die Demonstration dennoch statt. Foto: Sina Schuldt/dpa +++(c) dpa - Bildfunk+++ | Verwendung weltweit
    Pflegekräfte der Uniklinik Tübingen kritisieren die Personalnot in der Pflege (dpa)
    Gefragt, was sich bei der Pflege in Deutschland ändern muss, betet Wisser konzentriert einen langen Forderungskatalog runter. Die Bezahlung sei natürlich ein Problem, und der Fachkräftemangel. Aber auch die Qualifikation der Pflegekräfte bereitet ihr Sorgen:
    "Wir machen hier im ambulanten Pflegebereich täglich die Erfahrung, dass die Altenpflegeausbildung sehr defizitär ist. Und dass man da wirklich Dinge erlebt, die sehr gefährlich sind."
    Generalisierte Ausbildung von Pflegekräften
    Wisser befürwortet deshalb die generalisierte Ausbildung von Pflegekräften, damit sollte möglichst schnell begonnen werden. Ihre Forderungen stellt sie aber nicht nur an die Politik. Ohne Solidarität untereinander könne ein Wandel in der Pflege nicht gelingen. Häufig würden sich Pflegedienste gegenseitig das Leben schwer machen. Es fehle eine einflussreiche Lobby, um zum Beispiel einen für die Branche einheitlichen Tarifvertrag auszuhandeln.
    "Ich denke einfach, die Verbände alle, die brauchen wir nicht. Die tun sowieso, sag ich mal, sehr wenig für uns. Weil da jeder sein eigenes Ding macht."
    Hinter all diesen strukturellen Problemen stehe aber auch ein gesellschaftliches. Das Kümmern um die eigenen Angehörigen passt heutzutage oft nicht mehr in die Lebensplanung – und damit sinke auch die Anerkennung für Pflegekräfte.
    "Diese Werte sind verloren gegangen, sich um alte Menschen qualifiziert zu kümmern und sich auch liebevoll zu kümmern. Dass es normal ist, dass man seine Mutter pflegt."
    Nur ist eben schon lange nicht mehr klar, was "normal" ist in der Frage, wer sich um alte, kranke, siechende Menschen kümmert, die sich nicht mehr selbst versorgen können.
    Nicht nur in der ambulanten Pflege, sondern auch in der Pflege im Altenheim und natürlich auch in den Krankenhäusern scheint es schon seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, "fünf vor zwölf" zu sein. Das Wort "Pflegenotstand" gehört längst zum Alltagswortschatz.
    Dass der gesellschaftliche und medizinische Fortschritt auch zu einer riesigen Nachfrage nach professioneller Pflege führen würde, beschäftigte die Sozialpolitik schon in den 1980er-Jahren. Immer mehr Menschen werden immer älter, die Frauen emanzipieren sich aus ihrer überlieferten Rolle als unbezahlte Familien- und Kümmerkraft. Wer würde einspringen, wer würde das bezahlen?
    "Die Pflegeversicherung ist keine Erbenschutzversicherung"
    Mit der Pflegeversicherung wurde Mitte der 1990er-Jahre die Pflege aus der Krankenversicherung herausgelöst. Aus dem neuen Topf sollte immer nur ein Teil des Bedarfs gedeckt werden. "Die Pflegeversicherung ist keine Erbenschutzversicherung", hieß das geflügelte Wort dazu.
    Gleichzeitig wurde der Markt für private Investoren geöffnet. Das Signal hieß: Es fließt Geld, viel Geld, zuverlässiges Geld – baut Heime, stellt Personal ein, schafft Heimplätze, schafft Arbeitsplätze! Diese Liberalisierung bedeutet auch, so sagt es der Pflegewissenschaftler Hermann Brandenburg von der Hochschule Vallendar bei Koblenz:
    "Wir haben die Ketten auf dem Markt, die kaufen die Heime auf, senken die Preise und gehen weiter in der Ökonomisierung. Und am Ende stehen börsennotierte Aktiengesellschaften."
    Heute sind schon über 42 Prozent der Altenpflegeheime in privater Hand, 53 Prozent werden von kirchlichen und anderen Wohlfahrtsorganisationen bewirtschaftet, und nur noch ein kleiner Rest ist in öffentlicher Hand. Der Zuwachs der letzten zwanzig Jahre ist beträchtlich: Zwischen 1999 und 2016 wurden rund 300.000 zusätzliche Pflegeheimplätze geschaffen.
    Altenbetreuung in einem Altenheim der AWO, 1989
    Seit den 80ern ein Thema: Die Überlastung in den Pflegeberufen (Klaus Rose / dpa)
    Das Geschäft der Ketten sei, die internationalen Investoren zu bedienen, und das heiße, sagt Brandenburg in einer Diskussion im Deutschlandfunk:
    "Und die drücken an der Schraube der Bezahlung, und da geht es um 80, 90 Prozent der Kosten. Da wird dran gedrückt, und das betrifft das Fachpersonal, aber auch die Helfergeschichten. Man kommt dann als Fachkraft in eine Pflegeheimsituation und ist quasi umstellt von Hilfskräften auch aus unterschiedlichen Qualifikationen. Das ist die Dramatik. Dass wir die Pflege von demenzkranken, multimorbiden und sterbenden Älteren einer Klientel überlassen, wo man sich fragen kann – politisch – ist das eigentlich verantwortbar?"
    Nicht nur eine Frage der Bezahlung
    Einer, der seit Jahrzehnten die Verhältnisse in der Pflege anprangert, ist der Münchner Claus Fussek. Er ist in der ganzen Szene bekannt, er trägt die Bezeichnung "Pflegekritiker" wie einen Doktortitel.
    "Stellen Sie sich vor, Sie werden in Windeln gelegt, obwohl Sie noch zur Toilette gehen könnten – wegen Personalmangel. Man kriegt eine Magensonde, weil man keine Zeit hat, das Essen einzugeben. Wir haben zehn Kochsendungen pro Tag, und in den Heimen liegen Menschen am letzten Lebensabschnitt, und wir haben angeblich keine Zeit, ihnen das Essen einzugeben. Nein, nein, das geht gar nicht."
    Auch Fussek hebt darauf ab, dass eine bessere Pflege in Deutschland nicht nur eine Frage der Bezahlung, sondern auch eine Frage des geeigneten Personals sei:
    "Und wenn man dann nachrecherchiert, sind das genau die Situationen: zu wenig Personal, zu viel ungeeignetes Personal, und Menschen in der Pflege, die ohne jede Empathie sind, ausgebrannt sind, gleichgültig sind. Ich sage es immer so: Der Tierpark sagt, nee, die nehmen wir nicht, weil – kein Einfühlungsvermögen."
    Doch kennt Fussek nicht nur Missstände, sondern auch gute Häuser. Unter den gegebenen Bedingungen, sagt er, könne manche Heimleitung das Beste für die pflegebedürftigen Menschen herausholen – und zwar unabhängig davon, ob privat oder kirchlich oder anders:
    "In allen Bundesländern haben Sie auch vorbildliche Einrichtungen. Die haben eine Krankheitsquote, die man ignorieren kann, Personalfluktuation gegen Null, die haben auch keinen Personalmangel. Also es könnte schon gehen, wenn man möchte."
    Stichwort: Generalistik
    Die Große Koalition hat die Pflegeleistungen zuletzt ausgebaut, zum Beispiel wird nun endlich auch die Demenz erfasst. Auch das Problem des Fachpersonalmangels ist erkannt. Eine Antwort war dieses Jahr die Überarbeitung der Ausbildungsordnung: Das Stichwort ist Generalistik.
    Denn die Trennung in Krankenpflege und Altenpflege – die es so nur in Deutschland und Österreich gibt – hat bewirkt, dass die Altenpflege gegenüber der Krankenpflege immer schlechter dastand – und entsprechend schlechter bezahlt wurde. Im Schnitt verdient eine Altenpflegerin als Fachkraft in Vollzeit derzeit rund 2.600 Euro brutto – Krankenschwestern liegen im Schnitt mehrere hundert Euro, nach einigen Angaben fast tausend Euro darüber. Die neue, großenteils gemeinsame Ausbildung soll künftig die Altenpflege aufwerten.
    Pflegerische Betreuung eines Patienten
    Gesundheitsberufe gelten als besonders zukunftssicher doch auch als besonders unzumutbar (dpa)
    Auf diese Arbeit der Großen Koalition bezog sich auch Kanzlerin Angela Merkel, als sie im September im Wahlkampf in der Sendung "ARD-Wahlarena" auf einen 21-jährigen Pflegeschüler stieß:
    "Ja, guten Abend, Frau Merkel. Mein Name ist Alexander Jorde, ich mache eine Ausbildung zum Gesundheits- und Krankenpfleger. Sie sind seit zwölf Jahre an der Regierung und haben in meinen Augen nicht viel für die Pflege getan. Es gibt Schichten, da ist man mit 20 Patienten pro Pflegekraft. Und das kann nicht sein. Warum führen Sie nicht endlich eine Quote ein, wo man sagen kann, eine Pflegekraft betreut maximal so und so viele Patienten? Das muss doch in einem Land wie Deutschland möglich sein."
    "Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass sage ich ganz offen, dass zum Schluss alles nach bester Zufriedenheit ist, aber es wird mehr Standard da rein kommen. Also ich hoffe, dass wenn wir uns in zwei Jahren wieder sehen würden, dass es dann etwas besser ist …"
    "Das kann gar nicht funktionieren."
    "Warum kann das nicht funktionieren?"
    "Wie wollten Sie das denn schaffen, dass in zwei Jahren schon mehr Pflegekräfte da sind? Die fallen nicht vom Himmel."
    "Wir müssen es vor allem auch hier zu einem attraktiven Beruf machen. Und das heißt, in Tarifverhandlungen muss auch besser bezahlt werden. Das ist, glaube ich, eine der Hauptsachen."
    "Über 3.000 Tarifverträge alleine in dieser Branche"
    Zielsicher hatte der Pflegeschüler den Finger in eine der größten Wunden des Pflegesystems gelegt. Die "Quote", die er forderte, lässt in der Altenpflege noch auf sich warten. Die Krankenhäuser müssen sich für die Nachtschichten und die Intensivstationen ab 2019 an Untergrenzen für das Pflegepersonal halten. In der Altenpflege aber haben Arbeitgeber und Kassen allein für die Berechnung eines bundeseinheitlichen Pflegeschlüssels bis 2020 Zeit bekommen – und es ist unklar, wann der dann umgesetzt wird.
    Die Zuständigkeit der Bundesländer führte bislang dazu, dass etwa Baden-Württemberg wesentlich mehr Personal pro Patient aufweist als Brandenburg. Wobei Sachsen den besten Pflegeschlüssel hat – allerdings nur auf dem Papier.
    Auch die Tarifverhandlungen sind ein komplexeres Kapitel, als Angela Merkel es andeuten will. Es scheint ein ökonomisches Rätsel zu sein, das der enorme Bedarf an Pflegekräften nicht – dem Gesetz von Angebot und Nachfrage entsprechend – auch zu höheren Löhnen führt. Der Grund: Die Pflege ist organisatorisch vollkommen zerklüftet. Sylvia Bühler, die den Gesundheits- und Pflegebereich der Gewerkschaft verdi leitet, sagt:
    "Es gibt überhaupt keinen Arbeitgeberverband, mit dem verdi einen Branchentarifvertrag für das Gesundheits- und Sozialwesen abschließen könnte. Wir haben über 3.000 Tarifverträge alleine in dieser Branche. Besonders in der Altenpflege haben wir dramatische Verwerfungen. Wir brauchen die Unterstützung der Politik, wenn wir das wieder ordnen wollen. Wir brauchen eine Erleichterung von allgemeinverbindlichen Tarifverträgen …"
    Was bedeuten würde, dass die Bundesregierung einen beispielhaften Tarifvertrag auf die komplette Branche ausweiten kann, wenn dies im allgemeinen Interesse liegt. Drei Faktoren, die einer erfolgreichen Interessenvertretung offenbar entgegenstehen, werden stets genannt: Mehrheitlich Frauen, überwiegend Teilzeit, oft Migrationshintergrund.
    "So streiken, dass niemand zu Schaden kommt"
    Verdi will die vielfach genannte Zahl, wonach nur unter zehn Prozent der Pflegekräfte gewerkschaftlich organisiert sind, nicht bestätigen oder korrigieren – erklärt aber, man verzeichne neuerdings Zugänge von Altenpflegerinnen. Sylvia Bühler sagt, Arbeitskampf habe schlicht keine Tradition im Pflegebereich:
    "Für viele ist es völlig fremd sich vorzustellen, wie man streiken kann, wenn man für Patienten oder Pflegebedürftige zuständig ist. Wir erklären dann sehr viel, dass wir natürlich so streiken, dass niemand zu Schaden kommt."
    Eine Pflegerin legt einen Thrombose-Verband an.
    Altenpflegeschule bildet Pfleger aus (Jens Büttner / dpa)
    Immerhin ist es in den Krankenhäusern gelungen, den Abbau an Pflegepersonal zu stoppen. In den vergangenen Jahren wurden wieder mehr Krankenschwestern eingestellt. Doch nach wie vor gibt der Markt nicht genug her; immer noch wird auch in der Klinik die Arbeit auf zu wenige Schultern verteilt.
    Es gibt aber auch Beispiele, wo man zumindest versucht, nicht alles dem Diktat von Kostendruck und Rendite folgen zu lassen, wo sich Pflegekräfte und Ärzte als Team verstehen.
    Hanno Krieg ist unterwegs auf den langen Fluren im St. Josefs-Krankenhaus in Engelskirchen im Oberbergischen Land. Besuch bei einem Patienten:
    "Wie ist das jetzt mit den Schmerzen?"
    "Ich merke hier oben ein bisschen, ich habe schon mit der Schwester gesprochen, die meint auch, wir sollen erst mal abwarten und dann mal gucken…"
    Dem älteren Herrn wurde erst vor zwei Tagen eine Niere entfernt. Doch zur Überraschung aller ist er schon wieder ziemlich munter.
    "Genau. Und jetzt die Kraft in den Beinen ist wieder normal?" – "Genau so wenig wie vorher auch. Das ist ein anderes Thema."
    Man hält zusammen
    Hanno Krieg ist leitender Oberarzt, zu tun hat er genug. Aber trotzdem ist noch Zeit für Gespräche mit den Patienten. Selbstverständlich ist das nicht:
    "Ich habe vorher halt in Schichtmodellen gearbeitet, ich habe unter sehr großem Zeitdruck gearbeitet, wir haben sehr viele Überstunden geleistet. Am meisten schätze ich hier, dass ich so als Arzt arbeiten kann, wie ich mir das immer gewünscht habe: Dass ich keine Rücksicht auf Kostendruck nehmen muss, dass ich, wenn ich es möchte, mir genügend Zeit nehmen kann für die Patienten. Und für die Angehörigen natürlich."
    Und auch die Stimmung im Team beschreibt Hanno Krieg als gut: kollegial. Man hält zusammen. Natürlich habe er auch manchmal Stress, sagt er. Aber Vorgaben, wann und wie lange er sich mit einem Patienten unterhalten darf oder welche Maßnahme besonders viel Geld bringt – das hat er hier noch nie erlebt. Dabei setzt der 2003 in Deutschland eingeführte Abrechnungsmodus in Krankenhäusern durchaus diesen Anreiz: Das so genannten DRG-System vergütet Fallpauschalen, die sich überwiegend nach der Diagnose richten – und nicht mehr nach der Liegedauer. Medizinische Therapien bringen Geld – intensive Pflege und Zuwendung hingegen nicht:
    "Es lohnt sich ja – krass ausgedrückt – medizinische Maßnahmen zu vollbringen und möglichst wenig darüber zu reden. Das ist natürlich sehr polemisch, aber so entlohnt das DRG-System. Und da muss man eben auch mal auf die Bremse treten und sagen, Moment mal: Was ist uns wichtig? Was wollen wir eigentlich?"
    "Ja zur Menschenwürde" steht als Leitspruch auf der Homepage des katholischen Krankenhauses. Das soll für die Patienten gelten, aber auch für die Mitarbeiter:
    "Wir sehen uns als Familie an", sagt die Pflegerin Angela Duda, die für insgesamt drei Stationen in dem Krankenhaus verantwortlich ist: "in der Regel ist der Werdegang so, dass wir hier unsere Ausbildung machen und wenn wir in Rente gehen, verlassen wir das Haus. Wir haben eine geringe Fluktuation. Wir haben eine gute Stimmung untereinander."
    Teamgeist, keine Dienstverpflichtungen
    Und die Frage nach Zeitvorgaben beantwortet sie ganz klar:
    "Nein, ich entscheide in diesem Moment, wie viel Zuwendung mein Patient braucht und die Zeit nehme ich mir."
    Das funktioniert allerdings nur, wenn jeder bereit ist, mal für den anderen einzuspringen. Denn zusätzliche Kräfte herbeizaubern, das kann auch die Pflegedirektorin Martina Kropp nicht. Sie ist verantwortlich für die rund 300 Pflegekräfte im Haus:
    "Die Einsatzbereitschaft der Mitarbeiter in Bezug auf Flexibilität ist auch sehr hoch. Es gibt keine Dienstverpflichtungen. Das haben wir bisher immer so regeln können, dass die Mitarbeiter halt dann freiwillig eingesprungen sind."
    Dieser Teamgeist hat sicher etwas damit zu tun, dass es sich um ein vergleichsweise kleines Krankenhaus handelt. Die Pflegedirektorin ist aber auch davon überzeugt, dass es etwas mit dem Menschenbild zu tun hat. Ursprünglich von einer Kirchengemeinde gegründet, ist das Krankenhaus heute in Trägerschaft der Franziskanerinnen; dieser christlichen Grundhaltung fühle man sich nach wie vor verpflichtet:
    "Und auch zu zeigen, dass auch im Rahmen der Knappheit trotzdem ein menschenwürdiger Umgang miteinander – mit dem Patienten, aber auch mit dem Kollegen – möglich ist."
    Zusammenlegungen mit anderen Häusern
    Zwar werden Pflegekräfte ausgebildet und auch nahezu alle übernommen – aber der deutschlandweite Fachkräftemangel macht sich auch hier bemerkbar: Ingo Morell findet einfach nicht genügend Personal. Er ist der Geschäftsführer der Gemeinnützigen Gesellschaft der Franziskanerinnen zu Olpe: Die Trägergesellschaft, zu der auch das Krankenhaus in Engelskirchen gehört. Dass an diesem Standort rote Zahlen geschrieben werden, macht ihm Sorgen:
    "Normalerweise darf man das ja gar nicht so sagen, aber er wird quersubventioniert, weil wir sagen: Wir sind ein Gesamtverbund. Es ist tatsächlich so, bei uns geht es nicht um die Rendite, sondern der Gesamtverbund muss insgesamt laufen. Von daher werden auch bestimmte Standorte mitgetragen, wobei auf Dauer geht das nicht, jeder Standort muss sich irgendwann auch wieder selber tragen."
    Morell setzt auf Zusammenlegungen mit anderen Häusern. Doch es ist immer ein Spagat zwischen Wirtschaftlichkeit und Gemeinwohl. Auch im St. Josefs-Krankenhaus in Engelskirchen gibt es Stress, Belastungen und unzufriedene Mitarbeiter, da ist Morell realistisch. Aber es sei der Versuch, es anders zu machen:
    "Ich bin schon so selbstbewusst zu sagen, ich glaube, die meisten, wenn Sie die fragen würden: Wollen Sie wechseln? – was heutzutage ja überhaupt kein Problem ist –, die würden antworten: Nein, will ich nicht. Unterm Strich fühle ich mich hier schon wohl, und ich weiß, was ich tue und dass ich nicht – ich sag's mal provokativ – nicht nur für die Rendite irgendeines Unternehmens arbeite."
    *In dieser Passage haben wir in der ursprünglichen Version unsere Interviewpartnerin falsch wiedergegeben. Es hieß an dieser Stelle, Mawis erziele keine Gewinne. Richtig ist, dass sie zum Ausdruck bringen wollte, dass nicht Gewinnorientierung das Ziel sei, sondern die Arbeit am Menschen. Wir haben die betreffenden falsch wiedergegebenen Sätze sowohl im Text als auch in der Audioversion entfernt.