S 1 KR 295/10

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Wiesbaden (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
S 1 KR 295/10
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Beklagte wird verurteilt unter Aufhebung des Bescheides vom 30.06.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.11.2010, die Kosten für die Oberschenkelstraffung beiderseits in Höhe von 4.800,62 EUR sowie für die Oberschenkel- und Gesäßstraffung beiderseits in Höhe von 5.000,01 EUR zu erstatten.

2. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Kostenerstattung für eine Hautstraffungsoperation an beiden Oberarmen und Oberschenkeln.

Die im Jahre 1983 geborene Klägerin beantragte mit Schreiben vom 17.2.2010 die Kostenübernahme für eine Oberarm- und Oberschenkelstraffung. Zur Begründung führte sie aus, dass sie seit März 2006 mithilfe eines Magenbandes und seit Juni 2009 mithilfe eines Magen- Bypasses ihr Körpergewicht um 60 kg reduziert habe. Ausweislich einer Bescheinigung des Facharztes für plastische und ästhetische Chirurgie Dr. C. wog die Klägerin zum Zeitpunkt der Antragstellung bei einer Körpergröße von 168 cm 66 kg, was einem Body-Mass-Index von 23,5 kg/m² entspricht. Nach Einholung einer Stellungnahme des MDK (Dr. D.), der keine schwerwiegenden Funktionsbeeinträchtigungen oder krankheitswertige Befunde feststellen konnte, teilte die Beklagte mit Schreiben vom 9.4.2010 mit, dass beabsichtigt sei, eine Kostenübernahme abzulehnen. Dem widersprach die Klägerin. Zur Begründung führte sie aus, dass trotz etlicher Bemühungen immer wiederkehrende Entzündungen im Bereich der Hautfalten aufgetreten seien. Es sei eine ständige Behandlung mit Steroidsalben notwendig. Dadurch sei die Haut bereits stark gereizt und dünn geworden. Im Übrigen könne sie wegen der Hautlappen keinen Sport mehr machen wegen des Aneinanderreibens der Hautlappen, was ein lautes klatschende Geräusch verursache.

Die Beklagte holte eine weitere Stellungnahme des MDK (Frau Dr. E.) ein. Diese führte aus, dass eine medizinische Indikation zur Durchführung von Korrekturoperationen nach deutlichen Gewichtsverlusten ausschließlich dann gegeben sei, wenn dem Befund aufgrund seiner funktionellen Beeinträchtigung ein Krankheitswert beizumessen sei, konservative Behandlungsmaßnahmen ausgeschöpft seien und weiterer Behandlungsbedarf bestehe, dem ausschließlich durch eine entsprechende operative Intervention ausreichend gut begegnet werden könne. Es sei nicht belegt, dass die Behandlung der Hautaffektionen fachdermatologisch konservativ ausgeschöpft sei. Zu empfehlen seien das Tragen geeigneter Bekleidung, z.B. Halb- oder Langarmshirt, damit das Aneinanderreiben der Haut vermieden werden könne. Hinsichtlich der Oberschenkel könne durch das Tragen von Strumpfhosen eine Entzündungssituation vermieden werden.

Mit Bescheid vom 30.6.2010 lehnte die Beklagte eine Kostenübernahme unter Bezugnahme auf die MDK- Gutachten ab. Dem widersprach die Klägerin am 6.7.2010 und teilte mit, dass sie die Operation nunmehr als Selbstzahler durchführen lassen werde. Zur weiteren Begründung führte sie aus, dass die plastischen Chirurgen zur Operation geraten hätten. Die OP wurde im Juli 2010 durchgeführt.

Die Beklagte holte eine Stellungnahme des MDK (Dr. F.) ein. Dieser führte aus, dass aufgrund der Beweglichkeit der Hüft- und Schultergelenke funktionelle Beeinträchtigungen, die ausschließlich operativ saniert werden könnten, nicht vorhanden seien. Ebenso wenig würden die Hautveränderungen einen Grund für die OP darstellen. Dermatologische Alterationen ließen sich ausreichend durch Hautbehandlung und konsequent durchgeführte Hygiene gut behandeln.

Mit Bescheid vom 29.11.2007 wies die Beklagte den Widerspruch zurück und begründete dies mit den eingeholten MDK- Stellungnahmen.

Hiergegen richtet sich die am 7.12.2010 bei dem Sozialgericht Wiesbaden eingegangene Klage. Zur Begründung trägt die Klägerin vor, dass die von der Beklagten als Sachleistung gewährte Magen- Bypassoperation langfristig dazu geführt hätte, dass sie nunmehr normalgewichtig sei mit einem BMI von 23. Durch den massiven Gewichtsverlust von 60 kg seien starke Hautlappen an Oberschenkeln und Oberarmen vorhanden, die sie auch durch regelmäßige intensive Sportübungen nicht habe beseitigen können. Das Krankheitsbild habe der dringenden Behandlung bedurft. Der Befund habe sie, die Klägerin, entstellt. Dies habe bei ihr sowohl erhebliche körperliche Beschwerden als auch einen hohen Leidensdruck hervorgerufen. Im Übrigen ergebe das auf ihren Antrag eingeholte Sachverständigengutachten, dass die operative Entfernung der Haut- und Fettschürzen indiziert gewesen sei, um die glaubhafte Schmerzhaftigkeit bei Bewegung durch Einklemmung der Hautmassen zu verhindern und die dermatologische Therapie nicht sinnvoll gewesen sei aufgrund der dauerhaft benötigten Kortisonbehandlung samt der daraus resultierenden Nebenwirkungen.

Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 30.6.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.11.2010 zu verurteilen, die Kosten für die Oberschenkelstraffung beiderseits in Höhe von 4800,62 EUR sowie für die Oberschenkel und Gesäßstraffung beiderseits in Höhe von 5000,01 EUR zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Die Beklagte steht auf dem Standpunkt, dass die Entzündungen im Bereich der Hautfalten durch konsequente Hygiene ausreichend behandelt werden könnten. Funktionelle Beeinträchtigungen sowie ein krankheitswertiger Befund lägen nicht vor. Eine Entstellung sei vorliegend ebenso wenig gegeben wie eine Erstattungspflicht aufgrund psychischer Belastung, die mit Mitteln der Psychiatrie und Psychotherapie zu behandeln sei.

Das Gericht hat Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt (Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. G. und Hautärztin Dr. H.). Darüber hinaus hat das Gericht auf Antrag der Klägerin ein plastisch- chirurgisches Fachgutachten bei Priv.-Doz. Dr. J. eingeholt, das dieser am 31.8.2012 erstattet hat. Dieser kommt zusammengefasst zu dem Ergebnis, dass die operativen Behandlungsmaßnahmen bei der Klägerin notwendig gewesen seien. Eine Weiterführung konservativer Maßnahmen hinsichtlich der Hautproblematik sei nicht vertretbar gewesen im Hinblick auf die Nebenwirkungen einer homonhaltigen Salbentherapie.

Wegen der weiteren Einzelheiten, auch im Vorbringen der Beteiligten, wird auf die Gerichtsakte und die Beklagtenakte Bezug genommen, deren Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig und begründet. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtswidrig. Die Beklagte hat die Kosten für die Hautstraffungsoperation an Oberarmen und Oberschenkeln zu erstatten.

Nachdem die Klägerin sich die zunächst beantragte Leistung selbst beschafft hat, kommt als Rechtsgrundlage für den Erstattungsanspruch nur § 13 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) in Betracht. Danach hat die Krankenkasse, wenn sie eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte oder eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat, dem Versicherten die für die Beschaffung der Leistung aufgewendeten Kosten zu erstatten. Da der Kostenerstattungsanspruch an die Stelle eines an sich gegebenen Sachleistungsanspruchs tritt, kann er nur bestehen, soweit die selbstbeschaffte Leistung ihrer Art nach zu den Leistungen gehört, welche die gesetzlichen Krankenkassen als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (vgl. BSG in SozR 3 - 2500 § 27 Nr. 9 und SozR 3 - 2500 § 135 Nr. 14).

Vorliegend sind die Voraussetzungen von § 13 Abs. 3 S. 1 Alt. 2 SGB V gegeben. Die Beklagte hat zu Unrecht die Kostenübernahme der begehrten Hautstraffungsoperation abgelehnt. Gemäß § 27 Absatz 1 S. 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung setzt also eine "Krankheit" voraus. Unter Krankheit ist nach der Rechtsprechung ein regelwidriger, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender Körper oder Geisteszustand zu verstehen, der einer ärztlichen Behandlung bedarf oder den Betroffenen arbeitsunfähig macht (BSG Urteil vom 30.9.1999 in BSGE 85, 36,38). Nicht jeder unkörperlichen Unregelmäßigkeit kommt jedoch Krankheitswert zu. Eine Krankheit liegt nur vor, wenn der Versicherte in seinen Funktionen beeinträchtigt wird oder wenn die anatomische Abweichung entstellend wirkt (BSG, Urteil vom 19.10.2004 SozR4- 25 00 § 27 Nr. 3).

Entgegen der Auffassung der Klägerin ist die Kammer allerdings nicht der Auffassung, dass bei ihr eine Entstellung vorgelegen hat. Zwar belegen die vorgelegten Fotos vor der OP den massiven Hautüberschuss. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes, der sich das Gericht anschließt, liegt eine Entstellung indes nur vor, wenn sie sich schon bei flüchtiger Begegnung in der alltäglichen Situation, quasi "im Vorbeigehen" bemerkbar macht (Urteil des BSG vom 23 7. 2002 SozR3- 2500 § 33 Nr. 45). Bei der Beurteilung des Vorliegens einer Entstellung ist vom bekleideten Zustand des zu Beurteilenden auszugehen. Zwar hat die Klägerin vorgetragen, dass bei Ausübung des Sports ein Klatschen der überlappenden Hautfalten zu hören sei, das auch von Anderen wahrgenommen werde. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um die laut BSG geforderte Auffälligkeit bei flüchtiger Begegnung in alltäglichen Situationen.

Ebenso wenig ist ein körperlicher Eingriff in einen versicherungsrechtlich betrachtet gesunden Körper gerechtfertigt, um etwaige psychische Beeinträchtigungen zu beseitigen. Denn laut Urteil des BSG vom 19.10.2004 -Az. B 1 KR 3/03 R- dürfen keine Eingriffe in den gesunden Körper vorgenommen werden, um psychische Leiden zu beseitigen. Psychische Störungen sind nur mit Mitteln der Psychiatrie und Psychotherapie zu behandeln, damit das psychische Grundproblem angegangen und unmittelbar behandelt werden kann.

Vorliegend ist die Kammer indes der Überzeugung, dass aufgrund der dauerhaft therapieresistenten Hautreizungserscheinungen und entzündlichen Veränderungen ein Befund mit Krankheitswert vorliegt. Insoweit folgt das Gericht dem plastisch- chirurgischen Fachgutachten von Priv.-Doz. Dr. J. Dieser führt aus, dass trotz der von der Klägerin geschilderten sportlichen Aktivitäten die Beseitigung des Hautüberschusses nicht zu erreichen gewesen wäre und die Fortführung der über längere Zeit erfolgten konventionellen Behandlung der Hautproblematik mit Hormonen (Cortison) nicht sinnvoll gewesen wäre. Insoweit verweist er auf die Ausführungen der behandelnden Ärzte Dr. G. und Dr. H., die rezidivierende Entzündungen in der Bauchfalte, Bauchnabel sowie Ekzeme im Bereich der Oberarm- und Oberschenkelinnenseiten beschrieben haben, welche einer ständigen Steroidtherapie bedurften. Es hätten massive Hautlappenbildungen bestanden, so seien diese im Bereich der Oberarme auf 9 cm vermessen worden. Das aktuelle Hautbild der Klägerin zeige sich ohne Entzündungen oder Ekzeme. Eine dauerhafte dermatologische Therapie sei nicht sinnvoll und indiziert gewesen, da aufgrund der dauerhaft benötigten Kortisonbehandlungen auch die Nebenwirkungen einer solchen Therapie in Betracht hätten gezogen werden müssen.

Angesichts des Umstandes, dass die Klägerin eine außerordentlich massive Gewichtsabnahme – nach von der Beklagten bewilligter Magen- Bypass Operation – erreicht hat, die zu den geschilderten und ärztlicherseits bestätigten massiven Ekzemen aufgrund der verbliebenen Hautlappen geführt haben, ist das Gericht davon überzeugt, dass vorliegend aufgrund dieses krankheitswertigen Erscheinungsbildes die durchgeführte Operation als ultima ratio anzusehen war. Hierbei bleibt festzustellen, dass die Beklagte es unterlassen hat, anlässlich der Antragstellung der Klägerin zeitnah eine ärztliche Begutachtung mit ambulanter Untersuchung vor der OP durchzuführen und die Beurteilung, was auch der Sachverständige Dr. J. zu Recht kritisiert, nicht ausschließlich nach Aktenlage und anhand von vorgelegten Fotografien abzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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